Thomas Ott: Ein interaktives Modell zum Flächennutzungswandel im Transformationsprozeß am Beispiel der Stadt Erfurt

Migration


Einsetzende Suburbanisierung
     
Nach der Wende war neben dramatischen Abwanderungsverlusten in die alten Länder auch ein sprunghafter Anstieg der regionsinternen Wohnungswechsel und der generellen Umzugsbereitschaft zu verzeichnen. Neben der Sanierung und Modernisierung von Wohnungen setzte verstärkt seit 1992 der Bau von Eigenheimen am Stadtrand ein. "Vor allem jüngere Partner-Haushalte, sowohl mit als auch ohne Kinder, mit fester beruflicher Perspektive, suchen hier einen Zugang zur Gestaltung ihrer Wohnverhältnisse" (KURZ-SCHERF / WINKLER 1994, S. 233). Was die räumliche Reichweite der Wanderungsabsichten angeht, ist interessant, daß nach Untersuchungen von HERLYN/HARTH (1996, S. 270 u. S. 273) die Hälfte der Umzugswilligen Standorte in der städtischen Peripherie bzw. im Umland präferiert.    
     
Sowohl die physiognomischen Erscheinungen als auch der Umfang der Bevölkerungsverlagerungen aus der Kernstadt in die Stadtrandzone und das Umland legen den Schluß nahe, daß es sich bei dieser Entwicklung um einen Suburbanisierungsprozeß handelt, wie er sich in der alten Bundesrepublik vor allem in den sechziger und siebziger Jahren vollzogen hat. Zusammengefaßt lassen sich folgende Gründe für die damalige westdeutsche Entwicklung nennen:
  • Der Mangel an familiengerechtem Wohnraum in der Kernstadt vor dem Hintergrund hoher Geburtenraten ("Babyboom" der sechziger Jahre).
  • Wohnfeindliche städtebauliche Leitbilder in den Städten (z. B. "autogerechte Stadt", Cityerweiterung) bei gleichzeitiger Propagierung des Wohnens im Grünen.
  • Die allgemeine Wohlstandsentwicklung seit der "Wirtschaftswunderzeit", die einerseits die finanzielle Lage der Haushalte verbesserte und zugleich zu einem steigenden Wohnflächenbedarf beitrug.
  • Die staatliche Förderung zur Bildung von Wohn- und Hauseigentum.
  • Der stark gestiegene Motorisierungsgrad der Bevölkerung, wobei hier Ursache und Wirkung in einer starken Wechselbeziehung stehen.
   
     
Die aktuelle Situation in den neuen Bundesländern steht in deutlichem Gegensatz zu den an erster und zweiter Stelle genannten Punkten, auch bezüglich der Kapitalverfügbarkeit der Haushalte sind bislang noch Zweifel angebracht. Es ist daher nicht verwunderlich, daß bei der Erschließung neuer Wohn- und Gewerbegebiete eine völlig andere Logik zum Tragen kommt. Die Erschließung von Gewerbegebieten ging in den Stadtregionen der neuen Bundesländer der Ausweisung von Ein- und Mehrfamilienhausgebieten zeitlich voraus. Mangels Masse war eine Industriesuburbanisierung überhaupt nicht zu beobachten. Um so größer ist dagegen die Zahl der am Stadtrand und in den Umlandgemeinden neu angesiedelten Betriebe und Einzelhandelseinrichtungen, was vor allem auf Schwierigkeiten bei der Realisierung innerstädtischer Bauvorhaben zurückzuführen ist. Sowohl die gewünschte schnelle Marktpräsenz als auch die zeitliche Limitierung der Sonderabschreibungen (bis zu 50 % der Investitionssumme) führten neben den oben genannten Faktoren zu einer Bevorzugung von suburbanen Standorten durch die Investoren (vgl. WIRTH 1993, S. 35). Nachdem die erste Investitionswelle abgeebbt war, wiesen die Gemeinden verstärkt Wohnungsbauflächen aus, die jedoch im Gegensatz zu den westdeutschen Erfahrungen, wo der Wohnungsbau im Suburbanisierungsprozeß überwiegend duch private Bauherren getragen wurde, meist durch Investorengruppen (Immobilienfonds) und "Developer" erschlossen, bebaut und vermarktet werden.    
     
Zudem ist darauf zu verweisen, daß zumindest anfänglich der Großteil der fertiggestellten Wohnimmobilien von westdeutschen Kapitalanlegern erworben und die Suburbanisierung weniger von ehemaligen Bewohnern der Kernstadt, als vielmehr von aus anderen Regionen, d.h. überwiegend aus den alten Ländern zuziehenden Bevölkerungsgruppen getragen wurde (vgl. GANS 1993, S. 87ff.; HERFERT 1994). Trotz der vielerorts mangelhaften Infrastruktur und der nicht immer vorteilhaften Lage der neuen Wohngebiete, konnten aufgrund der steuerlichen Sonderabschreibungen Verkaufspreise erzielt werden, die oft über dem Niveau vergleichbarer westdeutscher Regionen lagen (vgl. HERFERT 1994, S. 13). Der "klassischen" Stadt-Umland-Wanderung waren somit angesichts der ostdeutschen Einkommens- und Vermögenssituation deutliche Grenzen gesetzt.    
     
Die oben genannten Kennzeichen der derzeit zu beobachtenden Entwicklung verbieten es, den Prozeß als Suburbanisierung im klassischen Sinn zu bezeichnen. So spricht Sedlacek (1995) stattdessen von einem "exogen gespeisten Verstädterungsprozeß", der in seinen Folgen – Landschafts- und Flächenverbrauch, Zersiedelung, Überformung gewachsener Dorfstrukturen – dem Suburbanisierungsprozeß gleicht, hinsichtlich der ihn tragenden Bevölkerungsgruppen und der benötigten politisch-planerischen Konzepte aber grundsätzlich differiert. HÄUßERMANN (1996a, S. 25f.) ettiketiert die Prozesse vor allem in bezug auf den Einzelhandel als "Extra-Urbanisierung", da die neuen Funktion nicht erst in der Stadt gegründet werden, um dann nach draußen zu wandern. Vielmehr entstehen außerhalb der Städte neue Zentren, die nahezu alle traditionellen kommerziellen Funktionen der Innenstädte anbieten.    
     
Damit ist jedoch bezüglich der zukünftigen Entwicklung nicht ausgeschlossen, daß es zu einer "klassischen" Suburbanisierung kommt. Dafür spricht der schon erwähnte steigende Anteil der Wohnsitzverlagerungen aus der Kernstadt in die neuen Wohngebiete, die in Befragungen artikulierten Umzugswünsche und -absichten vor allem der Bewohner der Großwohnsiedlungen, die sich weiter verbessernde Kapitalausstattung der Haushalte, die billigeren Boden- und Mietpreise im Umland, der nach wie vor gigantische Sanierungs- und Rekonstruktionsbedarf in den innerstädtischen Wohnquartieren und die stark gestiegene individuelle Motorisierung der Haushalte.    
     
Die bisher zu beobachtende Entwicklung ist durch eine sehr extensive Flächennutzung gekennzeichnet, im Ergebnis bilden sich "dispersere Stadtregionen als in Westdeutschland" heraus (Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau 1993, S. 7). Vor allem im gewerblichen Sektor "entstehen sehr große Einheiten (z. B. Einkaufszentren), und der Arbeitsplatzbesatz in Gewerbegebieten ist im Durchschnitt deutlich dünner als in Westdeutschland" (Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau 1993, S. 115).    
     
Die Frage, ob die Suburbanisierung in den ostdeutschen Großstadtregionen einen ähnlichen Umfang annehmen wird wie in den Verdichtungsräumen der alten Bundesländer, läßt sich derzeit noch nicht abschließend beantworten. Die wachsene Zahl leerstehender Wohnungen und Wohnhäuser im oberen Preissegment läßt jedoch erkennen, daß die staatliche Förderungspolitik nur unzureichend an den Bedürfnissen der ostdeutschen Bevölkerung orientiert war.    
     
Die Entwicklung im Raum Erfurt
     
Die Bevölkerungsverteilung zwischen Kernstadt und Umland hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg in Ost- und Westdeutschland sehr unterschiedlich entwickelt. Während in den alten Bundesländern der Einwohneranteil der Großstädte durch die fortschreitende Suburbanisierung seit den siebziger Jahren sank, war in den Groß- und Mittelstädten der DDR eine durch die staatlich gelenkte Wohnungsbaupolitik bedingte Zunahme der Bevölkerung zu beobachten (vgl. GANS 1993, S. 86f.; USBECK 1990, S. 42). Die Bevölkerungsentwicklung von Stadt und Landkreis Erfurt (vgl. Abb. 29) zeichnet in idealtypischer Form diese Entwicklung der Städte und Umlandkreise in der ehemaligen DDR nach. Während die Stadt Erfurt seit Anfang der sechziger Jahre eine ständig steigende Bevölkerungszahl aufwies, verlor der Landkreis im selben Maße an Bevölkerung. Mit der Öffnung der innerdeutschen Grenze verlor die Stadt bis zu den Eingemeindungen von 1994 fast 10 % ihrer ehemals 220.016 Einwohner (1988). Die Einwohnerzahl sank bis auf 200.799 (1993) ab; nach den Eingemeindungen wurden am Jahresende 1994 wieder 213.472 Einwohner gezählt. Zwar waren auch im Landkreis umfangreiche Abwanderungen in die alten Bundesländer zu beobachten, doch seit 1991 ist hier eine positive Entwicklung (+ 12,8 % bis 31.12.1995) der Bevölkerungszahl zu beobachten, die auf Wanderungsgewinne zurückzuführen ist (vgl. Abb. 30). Fortgeschrieben auf die alte, zum 30.6.1994 aufgelöste administrative Struktur, belief sich die Einwohnerzahl des ehemaligen Landkreises Erfurt am Jahresende 1995 auf 51.658.   Abb. 29: Bevölkerungsentwicklung in Stadt- und Landkreis Erfurt, Thüringen und Ostdeutschland 1945-1995
Quelle: Statistisches Jahrbuch der DDR, versch Jg.; Statistisches Jahrbuch Thüringen, versch. Jg.; eigene Berechnungen
     
In Abbildung 31 ist die Veränderung der Bevölkerungszahl der Erfurter Stadtteile und der Gemeinden des Landkreises zusammen mit projektierten und begonnenen Gewerbe- und Wohngebieten des Umlandes dargestellt. Von wenigen Ausnahmen abgesehen, weisen diejenigen Gemeinden, in denen Wohn- und Gewerbegebiete ausgewiesen wurden, eine positive Einwohnerentwicklung auf. Dabei lassen sich vier Kategorien unterscheiden: Gemeinden, die durch neue Gewerbeansiedlungen gekennzeichnet sind, solche, in denen neue Ein- und/oder Mehrfamilienhaussiedlungen entstehen, andere, die sowohl Gewerbe- als auch Wohngebiete aufweisen und letztlich jene, in denen seit 1989 nur wenige bauliche Aktivitäten zu verzeichnen waren. Während die Stadtteile der Kernstadt zwischen 1990 und 1995 im Saldo 17.168 Einwohner (-8,3 %) verloren haben, hat sich die Einwohnerzahl des ehemaligen Landkreises um 5.733 Personen (+12,4 %) erhöht, wobei davon mehr als die Hälfte (3.575/+23,1 %) auf die neu eingemeindeten Stadtteile entfielen. Am dynamischsten entwickelten sich dabei Gemeinden wie Frienstedt (+128,6 %), Niedernissa (+121,2 %) oder Kühnhausen (+98,9 %), die sich meist durch günstige Standortbedingungen auszeichnen. Interessanterweise ergaben sich die höchsten Steigerungsraten im jüngsten Beobachtungszeitraum (6/1994-12/1995). So stieg die Einwohnerzahl Alachs zwischen Dezember 1990 und Juni 1994 um 42 (5,1 %), in den darauffolgenden eineinhalb Jahren jedoch um weitere 571 Personen! In 30 von insgesamt 67 Orten im Untersuchungsgebiet war diese Beschleunigung zu beobachten, in weiteren 14 Gemeinden ging ein bis 1994 zu beobachtender Bevölkerungsrückgang in ein z. T. beträchtliches Wachstum gegenüber 1990 über. Da sich die neuen Wohngebiete in unterschiedlichen Realisierungsstadien befinden, ist jedoch eine abschließende Wertung noch nicht möglich. Weiterhin bleibt abzuwarten, wie sich die veränderte administrative Gliederung auf die Ausweisung neuer Wohn- und Gewerbegebiete auswirken wird. Immerhin hat die Gebietsreform dafür gesorgt, daß gerade die dynamischsten Umlandgemeinden eingemeindet wurden (vgl. Abb. 2).    

   
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