Thomas Ott: Ein interaktives Modell zum Flächennutzungswandel im Transformationsprozeß am Beispiel der Stadt Erfurt

neue Gewerbegebiete


Im Jahre 1988 umfaßte die Industrie- und Gewerbefläche der Stadt Erfurt ca. 893 ha (vgl. Stadtverwaltung Erfurt 1996). Schwerpunkt war das traditionelle Industriegebiet im Nordosten der Stadt. Im Entwurf des Flächennutzungsplanes sind derzeit 1.540 ha gewerbliche Baufläche ausgewiesen, wobei das Güterverkehrszentrum (vgl. Kap. 6.5.4) mit 344 ha den größten Anteil einnimmt. Weitere Schwerpunkte liegen in den neu errichteten Gewerbegebieten (vgl. Tab. 25). Interessanterweise waren einige der neuen Gewerbegebiete (Kalkreiße, Mittelhäuser Straße, Bernauer Straße, Schwerborner Straße, Eugen-Richter Straße, Bereich Saline) bereits im letzten Generalbebauungsplan (GBP/GVP Erfurt 1989, S. 35f.) und noch älteren Planungsdokumenten als auszubauende Gewerbe- und Industriestandorte ausgewiesen, d. h. die Planungen aus DDR-Zeiten wurden in die neuen Planungswerke überführt. Die seit 1990 neu eröffneten oder geplanten Gewerbegebiete der Stadt sind in Tabelle 25 dokumentiert.    
     
Neben den dort aufgeführten, von städtischer Seite oder privaten Investoren erschlossenen und vermarkteten Gewerbegebieten ergab sich entlang der wichtigsten Ausfallstraßen eine "Amerikanisierung der Versorgungsstruktur" (GORMSEN 1994, S 71), die sich in der Neuansiedlung von Autohäusern, Möbelgeschäften, Supermärkten, Fast-Food-Restaurants und anderen Betrieben niederschlägt. Als Beispiel für diese Entwicklung kann neben der Weimarischen Straße vor allem die Mittelhäuser Straße im Nordosten der Stadt dienen. Das Gelände rechts und links der Mittelhäuser Straße wurde schon vor 1990 als Gewerbe- und Industriegebiet genutzt. Bald nach der Wende wurden, ungeachtet der Lücken in der technischen Infrastruktur, zahlreiche neue Betriebe errichtet, noch ehe die städtische Rahmenplanung ordnend eingreifen konnte. Bei der mittlerweile nachgeholten Bebauungsplanung wurde den Betrieben Bestandsschutz eingeräumt und das gesamte Gelände als Gewerbe- und Industriestandort festgeschrieben. Ein Zitat aus der Thüringer Allgemeinen (vom 1.7.94) illustriert den eingetretenen Veränderungsprozeß: "Schon zu DDR-Zeiten waren die meisten 'Anwohner' der Mittelhäuser Straße Firmen und Institutionen. (...) Damals war es links und rechts der Mittelhäuser Straße noch recht urwüchsig: Felder, Gartenanlagen, eine große Müllkippe, die alte Ziegelei. Es wirkte alles schon weitab von der Stadt. (...) Heute reiht sich fast ein Unternehmen ans andere. Manche sind wirklich nur anhand des Straßenschildes zu finden, liegen versteckt im ‘Grünen’ oder im Innenhof einstiger Großbetriebe. Autohäuser, Baumärkte, Computerfirmen, Gaststätten, Möbelgeschäfte, Krankenkassen schufen neue Arbeitsplätze. Beim Erkunden von Nebenwegen und Toreinfahrten stößt man überraschend auf immer neue ‘Gewerbeinseln’.    
     
Nach der Schließung zahlreicher Erfurter Industriebetriebe, verfügt die Stadt über ein großes Potential an Industrie- und Gewerbebrachen, die in den nächsten Jahren in den Stadtentwicklungsprozeß einzubeziehen sind: "In den traditionellen Gewerbegebieten der Stadt bestehen Nutzungsreserven auf brachgefallenen oder weniggenutzten Flächen" (Stadtverwaltung Erfurt 1996), die als Reserven bei der Erschließung neuer Gewerbeflächen berücksichtigt werden müssen. Im Januar 1994 bezifferte der Wirtschaftsdezernent der Stadt die Gesamtfläche nicht länger genutzter Industrieflächen in Erfurt auf 150 Hektar (TLZ vom 16.1.1994). Es handelt sich um insgesamt 200 kleinere und größere Gewerbebrachen (MAIER/SCHALLER 1994, S. 15). In einigen Fällen ist es gelungen, traditionelle Gewerbestandorte wie das Optima-Gelände (28 ha; vgl. Kap. 6.5.2.2), die Schokoladenfabrik am Stadtpark (1,7 ha), den ehemaligen Schlachthof nördlich der Leipziger Straße (10 ha) oder das Gelände der ehemaligen Erfurter Motorenwerke mit Hilfe von Investoren, aber auch staatlichen Zuschüssen, neuen Nutzungen zuzuführen. Bei anderen Objekten, wie etwa der Lingelschen Schuhfabrik (5,5 ha; vgl. Kap. 6.5.1.3) oder dem "Nährmittelwerk" Eugen-Richter-Straße, konnten bislang nur Zwischenlösungen erzielt werden. Das Recycling ehemaliger Industrie- und Militärflächen wird jedoch durch Altlasten verzögert und verteuert. Die Zahl der ermittelten Altlastenverdachtsflächen betrug nach einer ersten Übersicht im alten Stadtgebiet 1.486 (TLZ vom 2.9.1993).    
     
In der ersten Zeit nach Wiedererlangung der kommunalen Selbstverwaltung handelten die Umlandgemeinden bei der Ausweisung von Industrie- und Gewerbeflächen oft ohne Beachtung allgemein anerkannter Ziele und Grundsätze der Raumordnung. "Die Investoren trafen mit ihren Versprechungen über Arbeitsplätze und Gewerbesteuern auf einen weitgehend rechtsfreien Raum fehlender Planungen und Planungskontrollen, auf unerfahrene und unqualifizierte Bürgermeister kleiner und kleinster Gemeinden, [die] nun mit eigener Planungshoheit" ausgestattet waren (Gormsen 1994, S. 71). Unter den Aspekten der Ansiedlung von Arbeitsplätzen und dem Erreichen von Wettbewerbs- bzw. Steuervorteilen gegenüber anderen Gemeinden wurden mitunter zu umfangreiche Gewerbegebiete ausgewiesen. Viele dieser Flächen stehen zwischen den Gemeinden in Konkurrenz – oft zu Lasten der Gemeinden mit zentralen Funktionen. Da der Aufbau der übergeordneten Aufsichts- und Genehmigungsbehörden erst mit zeitlicher Verzögerung erfolgte, wurden vielerorts vollendete Tatsachen geschaffen, die sich im nachhinein als eigentlich nicht genehmigungsfähig erwiesen. Die neuen Gewerbeflächen gingen zu über 90 % zu Lasten der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Nur ein geringer Anteil der Flächen wurden zuvor bereits gewerblich – überwiegend als LPG-Betriebsgelände – genutzt.  
Suburbanes Gewerbegebiet
     
In Abbildung 31 sind u. a. die bis September 1995 eröffneten bzw. projektierten neuen Gewerbestandorte im Untersuchungsgebiet dargestellt. Dominierten in der Anfangszeit vor allem Logistikzentren und Einzelhandelsmärkte aller Branchen, siedelten sich in den letzen Jahren auch verstärkt Handwerks- und andere Gewerbebetriebe auf diesen Standorten an, wobei in zunehmendem Maße Betriebserweiterungen und -auslagerungen aus der Kernstadt zu beobachten sind. Im Gewerbegebiet von Kerspleben (vgl. Kap. 6.5.4.4) beläuft sich der Anteil solcher Betriebe auf etwa ein Drittel.    
     
Größte Anziehungskraft weisen jene Standorte auf, die über eine gute überregionale Erreichbarkeit verfügen. Dies schlägt sich deutlich im Auslastungsgrad der Gewerbegebiete entlang der A4 und den beiden Bundesstraßen B4 und B7 nieder. Weitere bedeutsame Standorteinflüße üben der Flughafen Erfurt-Bindersleben und das im Bau befindliche Güterverkehrszentrum im Osten der Stadt aus (vgl. Kap. 6.5.4.4). Bereits vor Baubeginn der geplanten Autobahn A71 Würzburg – Erfurt – Magdeburg sowie der Ostumfahrung (beide bilden den zukünftigen "Erfurter Ring"), zeichnet sich eine bandartige Verdichtung der Gewerbestandorte entlang der zukünftigen Trasse ab.    
     
Das äußere Erscheinungsbild der neuen Gewerbegebiete beschreibt der Schriftsteller Martin STADE (1995, S. 148): "Ärgerte ich mich zu DDR-Zeiten über die schrecklichen Ställe und Wirtschaftsgebäude am Rande der Dörfer, so habe ich jetzt das zweifelhafte Vergnügen, Monsterbauten mitten in der alten Thüringer Kulturlandschaft emporwachsen zu sehen, die in ihrer häßlichen Zweckmäßigkeit alles übertreffen, was ich jemals sah. Das Randgebiet der Autobahnen und großen Straßen ist besonders davon betroffen. Die gewachsenen Dörfer werden überschattet und verdrängt von ins Riesenhafte vergrößerten blechernen Zigarrenkisten, zumeist Verteilungs- und Logistikzentren, die kaum Arbeitsplätze schaffen und in ihrer bunt-häßlichen Pracht geradezu gewalttätig das Land okkupieren."    
     
Nach einem Grundstücksmarktbericht der Liegenschaftsgesellschaft der Treuhandanstalt waren bis zum Jahresende 1992 am Stadtrand Erfurts 305 ha Gewerbeflächen ausgewiesen, die zu Verkaufspreisen von 40 bis 180 DM/m² angeboten und veräußert wurden. Um dem Landschaftsverbrauch durch neue Gewerbeflächen Einhalt zu gebieten, wurden die Fördersätze für Erschließungskosten, die anfänglich noch bei 100 % lagen schrittweise zurückgeführt. Als Bedingung für die Gewährung von Landesmitteln wurde zudem festgelegt, daß mindestens 50 % der Fläche an Betriebe aus dem produzierenden Gewerbe zu vergeben sind (vgl. NIEDERMEYER 1994, S. 273).    

   
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