Thomas Ott: Ein interaktives Modell zum Flächennutzungswandel im Transformationsprozeß am Beispiel der Stadt Erfurt

Sozialistische Plattenbausiedlungen


Die städtebauliche Situation ostdeutscher Großsiedlungen
Etwa ein Drittel der ca. 3 Millionen seit 1950 in Ostdeutschland erbauten Wohnungen liegt in einer der 125 Großsiedlungen mit mehr als 2.500 Wohneinheiten. Im Schnitt leben damit fast 25 % der Einwohner der neuen Bundesländer in einer solchen Siedlung, in Ost-Berlin und anderen ehemaligen Bezirksstädten werden z. T. Anteile von über 50 % erreicht (BREUER/HUNGER 1992, S. 431; HOHN/HOHN 1993, S. 147). Zwar entstanden auch im Westen ähnliche, in Kontrast zur alten Stadt gesetzte "Wohninseln" am Stadtrand, aber diese sind i. d. R. kleiner dimensioniert als jene in den neuen Bundesländern, die z. T. die Einwohnerzahl von Mittelstädten erreichen. "Während es im Westen ... stets Alternativen zu den auch hier entstehenden Großsiedlungen gab, blieb in Ostdeutschland bei allgemeiner Wohnraumknappheit und verfallender, schlecht ausgestatteter Altbausubstanz ohne nennenswerte Sanierungsmöglichkeiten eine Neubauwohnung zwangsläufig sozialschichtenübergreifendes Ziel, das man sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – spätestens seit Beginn der 70er Jahre eben nur durch den Einzug in eine der Großsiedlungen erfüllen konnte" (HOHN/HOHN 1993, S. 146). "Die dortigen Sozialstrukturen sind also sehr verschieden im Vergleich zu denen westdeutscher Großsiedlungen. Dies kommt daher, daß der Bezug solcher Wohnungen zu DDR-Zeiten im Regelfall eine Verbesserung der Wohnbedingungen bedeutete und deshalb allgemein begehrt war" (Häußermann 1995, S. 14). Eine "Diskussion, die im wesentlichen die westdeutsche Großsiedlungskritik der 70er Jahre auf die ostdeutschen Wohngebiete überträgt" (HANNEMANN 1996, S. 87) und die Plattenbaugebiete als Problemgebiete synonymisiert ist daher unangemessen. Abb. 12: Großwohnsiedlungen in den neuen Bundesländern mit mehr als 5.000 Wohnungen
Quelle: Bundesminister für Raumordnung (1991a, S. 13ff.); HOHN/HOHN (1993, S. 148)
Obwohl die Neubauwohnungen in den Plattenbausiedlungen i. d. R. nur kleine Wohnräume besaßen und zum Teil auch bauliche Mängel hatten, bestand eine starke Nachfrage nach diesen Wohnungen, die zu keinem Zeitpunkt befriedigt werden konnte. "Neubauwohnungen waren vor allem deshalb begehrt, weil sie im Unterschied zur Mehrzahl der Altbauwohnungen über eine deutlich bessere Ausstattung verfügten. Sie besaßen Bad bzw. Dusche, Innen-WC, waren zum Teil bereits zentralbeheizt und mit Warmwasserversorgung versehen, hatten auch Einbauküchen" (MANZEL 1992, S. 256).
Die Mängel und der überdimensionierte Umfang der Großwohnsiedlungen wurden auch in der DDR etwa von Seiten der Schriftsteller und der Bürgerrechtsbewegung, aber auch aus der Architektenschaft kritisiert (vgl. SCHERF 1979, S. 45). Als Kennzeichen und Hauptkritikpunkte lassen sich folgende Punkte nennen (vgl. SCHÖLLER 1987, S. 450 u. S. 464; HUNGER 1991, S. 34f.; Wüstenrot Stiftung 1993, S. 150; HANNEMANN 1996, S. 87):
  • stark genormte Typenbauten mit hohem Anteil an Klein- und Kleinstwohnungen in erheblicher Verdichtung,
  • bautechnische Mängel und Schäden an Gebäuden sowie Ver- und Entsorgungssystemen,
  • Energieverschwendung,
  • städtebauliche Monotonie und uniforme Gestaltung der Wohnhäuser ohne historische oder lokal-regionale Indentifikationsmöglichkeiten im Wohnumfeld
  • stark zentralisierte gesellschaftliche und Versorgungseinrichtungen ohne private Handels- und Handwerksbetriebe, fehlende wohnungsnahe Infrastruktur,
  • fehlende Möglichkeit der Wohnungsnahen Erwerbstätigkeit,
  • geringer Gebrauchswert der öffentlichen Räume im Wohnumfeld,
  • Ausbleiben jeglichen städtischen Lebens,
  • mangelhafte städtebauliche Anbindung an benachbarte Wohnquartiere ("Inselplanung")
  • Verkehrsprobleme (Parkplatzmangel),
  • bewußte Aussparung christlicher Kirchen.
Die Infrastruktur richtete sich unter dem Druck der vergabebedingten "besonderen Bewohnerstruktur auf die bevorzugte bauliche Fertigstellung von Kindertagesstätten und allgemeinbildenden Schulen" (Wüstenrot Stiftung 1993, S. 204). Die Alters- und Sozialstruktur der Siedlungen entwickelte sich in "demographischen Druckwellen" (Wüstenrot Stiftung 1993, S. 205), bei denen der Überfüllung bestimmter Einrichtungen stets der Leerstand folgte (vgl. Kap. 6.1.2). Für die Neubausiedlungen wurden bezüglich der Ausstattung mit Infrastruktureinrichtungen gesetzliche Mindeststandards definiert. Die Realisierung dieser Einrichtungen verzögerte sich oftmals über mehrere Jahre oder sie wurden unter wachsendem Kostendruck gar nicht errichtet und provisorisch in Wohnungen oder Baubaracken untergebracht (vgl. SCHÄFER 1996, S. 335). Insgesamt zeichneten sich die Neubausiedlungen "durch ein ausreichendes Angebot an Kindereinrichtungen, Schulen und – eingeschränkt – medizinischer Versorgung, durch einen minimalen Grundstandard im Bereich von Handel und Dienstleistungen sowie erhebliche Defizite in den Bereichen Kultur, Sport, Freizeit und Gastronomie aus (...). Leben im Neubaugebiet war somit nicht möglich, ohne auf Funktionen anderer Stadtteile und des Stadtzentrums – auch für die Erledigung alltäglicher Besorgungen – zurückzugreifen" (SCHÄFER 1996, S. 335).
Die randstädtischen Großwohnsiedlungen der neuen Bundesländer sind "aufgrund ihres jahrzehntelangen hohen Anteils am Wohnungsbau ein wichtiges Segment des gesamten Wohnungsbestandes und trotz städtebaulicher Mängel langfristig für die Wohnraumversorgung unverzichtbar" (BREUER/ HUNGER 1992, S. 430). Ziel der städtebaulichen Weiterentwicklung ist daher die tragfähige funktionale und soziale Integration der Siedlungen in den Stadt organismus. Nur so kann sichergestellt werden, daß die Großwohngebiete ihre heterogene Sozialstruktur beibehalten und der "Wettbewerbsdruck" (BREUER/HUNGER 1992, S. 430) durch revitalisierte Altstadtgebiete und neue Eigenheimsiedlungen nicht zu einer sozialen Erosion führt. Der soziale Ausdifferenzierungsprozeß ist indes in vollem Gange und leitet "Entsolidarisierungs- und Segregationsprozesse ein. Die Massenarbeitslosigkeit hat zur Folge, daß die Siedlung als Ort des Aufenthalts und der Identitätsfindung eine viel größere Bedeutung bekommt als zu Zeiten der Vollbeschäftigung. (...) Überschreitet diese Entwicklung schwer bestimmbare Schwellenwerte, so werden die städtebaulich unbefriedigenden, aber sozial immerhin weitgehend intakten Wohngebiete kurzfristig zu sozialen Problemgebieten der Städte" (BREUER/HUNGER 1992, S. 434).
In bezug auf das Wohnumfeld stehen die bautechnische und energetische Sanierung, die Begrünung sowie die Schaffung von Freizeit- und Einkaufsmöglichkeiten, die zugleich in geringem Umfang wohnstandortnahe Arbeitsplätze bieten, im Vordergrund. Vereinzelt kann durch Wohnungsneubau trotz weiterer Verdichtung eine baulich-gestalterische Auflockerung erzielt werden. Die Wohnungen in den Großwohnsiedlungen sind mit durchschnittlich 59 m² kleiner als der Durchschnitt des Gesamtbestandes; es zeigt sich ein zu großer Anteil an Dreiraumwohnungen. Durch die Anpassung der Wohnungsgrundrisse an neue Haushaltsformen und die Schaffung altengerechter Wohnungen versucht man, die Einförmigkeit zu überwinden. Umfassende konzeptionelle Verbesserungen werden jedoch größtenteils durch die Verschuldung und Finanznot der Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften blockiert. Die Stadtplaner befinden sich zudem in einem Zielkonflikt. Die Vitalisierung der Großsiedlungen durch attraktive Einkaufs- und Freizeitmöglichkeiten steht in Konkurrenz zur Ansiedlung von Einzelhandelseinrichtungen in den traditionellen Stadtzentren.
Plattenbausiedlungen in Erfurt
Der Übergang zum "komplexen Wohnungsbau" wurde in Erfurt durch das zwischen 1965 und 1972 gebaute Wohngebiet Johannesplatz mit seinen 3.380 Wohneinheiten in fünf- und zehngeschossiger Serienbauweise sowie den zugehörigen Gemeinschaftseinrichtungen markiert. Der Siedlungsaufbau folgte dem Grundgedanken des "sozialistischen Wohnkomplexes" und wurde mit einem Wohngebietszentrum mit Kaufhalle und Dienstleistungseinrichtungen sowie Kindergarten, Schule und Ambulanz ausgestattet. Die schematische Anordnung der 5-, 11- und 16-geschossigen Wohnhäuser offenbart zugleich die ökonomischen Restriktionen wie die gestalterischen Einschränkungen der eigens entwickelten WBR Erfurt.
Ziel des Erfurter Wohnungsbauprogramms war die Schaffung von 2.000 Wohnungen jährlich, was nur durch die Ausdehnung der Stadt in intensiv landwirtschaftlich genutzte Flächen am Stadtrand möglich war. In den folgenden Jahren entstanden im Norden der Stadt die Großwohnsiedlungen Rieth, Nordhäuser Straße und Roter Berg mit zusammen fast 30.000 Wohneinheiten (vgl. Tab. 4). Grundlage der Anstrengungen im Wohnungsbau war der aus dem industriellen Ausbau in den Bereichen Maschinenbau, Elektrotechnik und Elektronik resultierende Zuwachs der Bevölkerung. Der Ausbau der Industrie begann bereits 1959 mit dem VEB Starkstromanlagenbau und dem Funkwerk, zu denen sich bis 1968 ein Großhandelslager, ein Mischfutterwerk und eine der größten Molkereien der DDR gesellten. Ab Mitte der sechziger Jahre wurden die großen Industriebetriebe planmäßig ausgebaut und die Betriebsflächen erweitert. Weitere großflächige Anlagen im Industriegebiet Nord waren das Großplattenwerk des Bezirkswohnungsbaukombinates, ein Umspannwerk, das 1982 eröffnete Fernheizwerk sowie zahlreiche Werkstätten und Läger. Der Ausbau nach Norden folgte dabei der historisch und infrastrukturell vorgegebenen Hauptlinie der Stadtentwicklung, d. h. dem Geralauf und der Eisenbahnlinie nach Norden (vgl. WERNER 1985, S. 359ff.; ROSENPFLANZER 1988, S. 46). An die Tradition des Erfurter Gartenbaus und den Ruf als Blumenstadt knüpfte die 1961 eröffnete Internationale Gartenbauausstellung (iga) auf dem Gelände der Cyriaksburg an. Bereits 1958 war am Südhang des Roten Bergs mit dem Aufbau des Zooparks begonnen worden. Abb. 15: Wohnungsbau und Wohnungsbestand in Erfurt 1955-1995

Quelle: Erfurter Statistik, versch. Jg.; Thüringer Landesamt für Statistik; eigene Berechnungen

Insbesondere aufgrund der anhaltenden Zuwanderung aus dem Umland aber auch aus anderen Bezirken, erreichte die Stadt bereits 1973 die 200.000 Einwohner Marke. Die Entwicklung in der Stadt bzw. dem Bezirk Erfurt folgte hinsichtlich der Bevorzugung der Bezirkshauptstadt beim Wohnungsbau dem Beispiel der übrigen Bezirke. Die mittleren Städte wie Eisenach, Gotha, Weimar, Nordhausen oder Mühlhausen waren zwar ebenfalls Standorte des komplexen Wohnungsbaus, jedoch in wesentlich geringerem Umfang als Erfurt, wo in den siebziger Jahren rund 40 % der Bauleistung des Bezirkes realisiert wurde (vgl. HENN 1980; BENNECKENSTEIN/FISCHER 1989, S. 584). Während die Gesamtbilanz der Wohnungsbauleistungen zwischen 1945 und 1970 in etwa der Einwohnerrelation zwischen der Bezirksstadt und den Kreisstädten entsprach, wird mit dem Beginn des Wohnungsbauprogramms ein überdurchschnittlicher Vorsprung Erfurts deutlich (vgl. Abb. 20). Der Zusammenhang zwischen Wohnungsneubau und innerstädtischem Verfall wird durch die folgenden Daten illustriert: Während sich die Einwohnerzahl zwischen 1970 und 1977 um etwa 10.000 erhöhte, was einem rechnerischen Wohnungsbedarf von 3.000 Wohnungen entsprochen hätte, wurden im gleichen Zeitraum 14.000 Wohnungen errichtet und "Abrißmietern" zur Verfügung gestellt (vgl. WERNER 1985, S. 362). Der ungleiche Umfang des Wohnungsneubaus führte auch dazu, daß sich das Ausstattungsniveau der städtischen Wohnungen mehr und mehr von jenem im Umland abhob und somit als pull-Faktor auf die ländliche Bevölkerung wirkte (vgl. Tab. 5). Erheblich Anstrengungen wurden auch bezüglich des Ausbaus der Verkehrswege unternommen. Als Beispiele können die Anbindung der Neubausiedlungen an das Straßenbahnnetz oder die Eröffnung der Eisenbahnbrücke am Schmidtstedter Knoten (1969-1976) genannt werden.
Nach der Fertigstellung der Wohnsiedlungen im Norden begann 1981 der Bau des Komplexes Erfurt Süd-Ost, der die Teilbereiche Herrenberg, Wiesenhügel, Drosselberg und Buchenberg mit zusammen ca. 14.500 Wohnungen umfaßt. Waren die Wohngebiete der späten sechziger und siebziger Jahre vor allem als Wohnstätten der im traditionellen Industriegebiet im Erfurter Nordosten beschäftigten Arbeitskräfte konzipiert, ist die Entstehung des Komplexes im Südosten im Zusammenhang mit der Ansiedlung neuer Hochtechnologieindustrien wie der Chipfabrik ESO (VEB Mikroelektronik "Karl Marx") zu sehen (vgl. RECHENBACH 1989).
Nach den Erfahrungen des zuwanderungsbedingten kontinuierlichen Bevölkerungswachstums rechneten die Planer mit einer weiter steigenden Einwohnerzahl auf bis zu 250.000 Einwohner (vgl. erstmals NITSCH 1968b, S. 413). Der Wohnraumbedarf der Zuziehenden sollte möglichst durch innerstädtische Wohnungsbauprojekte gedeckt werden. Da dies auf der Basis der vorhanden Technologie nur eingeschränkt und zudem nicht schnell genug möglich war, wurden weitere Neubaustandorte am Stadtrand beplant: "Zur Erreichung der benötigten ... Wohneinheiten ist ein Außenstandort von ca. 4.000 WE bis 1995 unumgänglich. Er muß aber nach 1995 noch erweiterungsfähig sein, um die hohen stadttechnischen Erschließungskosten zu rechtfertigen und die bis 2000 benötigten Neubau-WE aufnehmen zu können. Als Ergebnis umfangreicher Standortuntersuchungen mit Wichtung der vorhandenen Nutzung, städtebaulicher Anbindemöglichkeiten, stadttechnischer und verkehrlicher Erschließung sowie möglicher Standortreserven hat sich der Standort ‘Schmira’ als der einzig bebaubare herausgestellt. Die Fläche liegt beiderseits der B7 und zieht sich nördlich von Schmira weiter westlich. Die Erschließung durch den ÖPNV erfolgt durch Verlängerung der Straßenbahn ab IGA-Haupteingang" (GBP/GVP Erfurt 1989, S. 17).
Nach der Wende kam der Statuswechsel der Plattenbausiedlungen in Gang, "ohne daß viel passiert wäre" (WEISKE 1996, S. 186). Durch die Aufwertung der alten Stadtteile und den Wohnungsneubau am Stadtrand sinkt das Renommee der ehedem gut ausgestatteten und bevorzugten Großwohnsiedlungen. Die schon zu DDR-Zeiten geäußerten Kritikpunkte nehmen an Bedeutung zu. "In dem Maße, in dem die Qualitäten der Neubauwohnung durch Sanierungen im Altbau verbreitet werden, relativieren sich die Vorzüge, und die Nachteile der Neubauwohnungen treten stärker hervor" (WEISKE 1994a, S. 23).
Sozialistische Wohnkomplexe im Erfurter Südosten
Die zwischen 1969 und 1977 errichtete Großwohnsiedlung Rieth entstand nach dem Wohngebiet Johannesplatz als zweites großes Nachkriegswohngebiet der Stadt. Die Siedlung am Herrenberg zählt demgegenüber zu den jüngeren Plattenbaugebieten, die in den achtziger Jahren im Südosten der Stadt entstanden. Beide stehen stellvertretend für jene Wohnsiedlungen, die im Zuge des von Erich Honecker auf dem VIII. Parteitag der SED verkündeten Wohnungsbauprogramms entstanden, mit dem die "Wohnungsfrage als soziales Problem gelöst" werden sollte (vgl. Kap. 2.2.3). Dieser "volkswirtschaftliche Kraftakt" (Bartholmai/ Melzer 1993, S. 17) erbrachte immerhin etwa 2,1 Millionen neu errichteter und 1,3 Millionen modernisierter Wohnungen zwischen 1971 und 1990. Auf der anderen Seite der Bilanz stehen dem jedoch die beispiellose Monotonisierung der neuen Wohngebiete und der Verfall der Altbausubstanz in der DDR gegenüber. Die Großwohnsiedlungen wurden zentral geplant, entweder vom Staat oder von Wohnungsbaugenossenschaften finanziert und durch große Baukombinate errichtet. Im Schnitt leben fast 25 % der Einwohner der neuen Bundesländer in einer solchen Siedlung. In Ost-Berlin und anderen ehemaligen Bezirksstädten wie Erfurt werden z. T. Anteile von über 50 % erreicht (vgl. Bundesminister für Raumordnung, Bauwesen und Städtebau 1991a; Breuer/Hunger 1992; Hohn/Hohn 1993).
Planung und Bau der Wohnsiedlung Rieth (vgl. Abb. 50) erfolgten durch das Wohnungsbaukombinat Erfurt. Die Planungen standen unter der Vorgabe einer "maximale[n] Flächennutzung" (Thomann/ Weingart 1974, S. 532). Die Wohnbebauung verteilt sich auf sechzehngeschossige Hochhäuser sowie fünf- und elfgeschossige "Wohnscheiben". Diese bilden "langgestreckte Baukörper, die das Gebiet nach außen und nach Norden wie eine Mauer schützend abriegeln sollen" (WEISKE 1996, S. 183). Im südlichen Bereich befinden sich viergeschossige Wohnhäuser, die bereits in den sechziger Jahren in Zeilenbauweise errichtet wurden. Die Bauausführung basierte auf einer Fortentwicklung der WBS/WBR Erfurt aus den sechziger Jahren. Die Gemeinschaftseinrichtungen wie Kindergärten, Schulen, Studenten- und Seniorenwohnheime wurden vor allem in den Randbereichen angeordnet. Im Zentrum des Wohngebietes wurde – umschlossen von einer Straßenbahnwendeschleife – ein "gesellschaftliches Zentrum" mit Schwimmhalle, Bibliothek, Kaufhalle, Läden, Ambulatorium, Dienstleistungseinrichtungen und einem Gaststättenkomplex errichtet. Auch diese Gebäude wurden in Typenbauweise realisiert und zielten auf eine optimale "Funktionsverflechtung". So verwandelte sich bspw. die Schulkantine am Abend in ein Restaurant; der Schulhof diente auch als Versammlungsplatz bei Kundgebungen und Wohngebietsveranstaltungen.
Fünf Jahre nach der "Wende" haben sich deutliche Veränderungen hinsichtlich der Gebäudenutzung bzw. der vorhandenen Verkaufs- und Dienstleistungseinrichtungen ergeben (vgl. Abb. 50). Neben einigen neu gebauten Geschäftshäusern am Rand des Wohngebietes, fällt vor allem die Umstrukturierung des zentralen Bereichs ins Auge. Die Gaststätte steht leer, das Ambulatorium wurde aufgelöst. An seine Stelle sind niedergelassene Ärzte, ein Kosmetikstudio, aber auch die Büros anderer Freiberufler wie Rechtsanwälte und Steuerberater getreten. Die ehedem vorhandenen Filialen von Post und Bank wurden geschlossen, an ihre Stelle sind Bank- und Briefmarkenautomaten getreten. Die Kaufhallen der HO wurden von westdeutschen Einzelhandelskonzernen (REWE, Edeka) übernommen, das Angebot wird durch einen Wochenmarkt ergänzt. Unter dem Dach des Supermarktes entstanden weitere kleine Einzelhandelsbetriebe (Optik, Floristik, Backwaren, Zeitschriften). Die Räume der ehemaligen Postfiliale werden derzeit von einem Restpostenmarkt genutzt. Die ebenfalls in den Gebäudekomplex des Wohngebiets integrierte Stadtteilbibliothek und die Schwimmhalle sind weiterhin geöffnet. Die bauliche Substanz der Gebäude zeigt sich in stark vernachlässigtem Zustand, z. T. sind die Scheiben der leerstehenden Räume eingeschlagen worden.
Für die Zukunft ist eine Modernisierung und Umgestaltung des Wohngebietszentrums unter dem Titel "Vilnius Passagen – ein Zentrum für Einkauf, Freizeit und Gastronomie" geplant. Bauträger ist eine Immobiliengesellschaft aus Süddeutschland, die Anteile am Gebäudekomplex im Westen als Steuersparobjekte verkauft. Die Fertigstellung des Objektes war für November 1995 angekündigt, bis Mitte 1996 war jedoch noch nicht mit den Bauarbeiten begonnen worden, was im Zusammenhang mit dem im Herbst 1995 eröffneten Thüringenpark (vgl. Kap. 6.5.4.3) in fußläufiger Entfernung auf Schwierigkeiten bei der Vermarktung des Objektes schließen läßt.
Das ehemalige Hotel "Vilnius" wird unter dem leicht veränderten Namen "Vilna" weitergeführt. Im Bereich der Wohngebäude sind nur sehr vereinzelt kleinere Unternehmen wie Versicherungsagenturen oder ein Getränkevertrieb zu finden. Die Gewerbeflächen im Nordosten des Wohngebiets stehen zum Teil leer, teilweise wurden sie jedoch auch in Büroflächen umgewandelt. Neben Gewerbebetrieben haben sich hier auch öffentliche Dienststellen (z. B. Wohngeldberatungsstelle) angesiedelt.
Etwa 50 % der Wohngebäude des Stadtteils, die zum großen Teil von der Wohnungsbaugenossenschaft "Erfurt" und dem kommunalen Wohnungsunternehmen "KOWO" verwaltet werden, sind in den letzten Jahren renoviert worden. An anderen Gebäuden sind die Arbeiten im Gange. Zu DDR-Zeiten war es unerheblich, ob ein Mietverhältnis mit der kommunalen Wohnungsverwaltung oder einer Wohnungsbaugenossenschaft bestand. Mit der Einführung des westdeutschen Rechtssystems hat sich das fundamental verändert, da die Genossen als Miteigentümer weitergehende Mitspracherechte (Privatisierung, Renovierung, Bestandspflege und somit letztlich auch Mietpreis) haben, als die Mieter der kommunalen Wohnungsbaugesellschaft. Privatisierungen bzw. Verkäufe von Wohnungen haben im Stadtteil Rieth bislang nicht stattgefunden: "Die KOWO hat sich entschieden, nicht am Rieth sondern in älteren Beständen zu privatisieren, die aus den 60er Jahren stammen bzw. auch noch älter sind. Das hängt mit der fatalen Tatsache zusammen, daß der Neubau der frühen Jahre qualitativ gediegener ist, als der Neubau der späteren Jahre" (WEISKE 1996, S. 184).
Die Wohnungen in Rieth sind mit durchschnittlich 50 m² erheblich kleiner als der Durchschnitt des Gesamtwohnungsbestandes. Der Anteil der Wohnungen mit höchstens zwei Räumen liegt bei 48,3 % und der der Drei-Zimmer-Wohnungen bei 41,9 % (vgl. Tab. 30). Durch die Anpassung der Wohnungsgrundrisse an neue Haushaltsformen und die Schaffung altengerechter Wohnungen versucht man, die Einförmigkeit zu überwinden. Umfassende konzeptionelle Verbesserungen werden jedoch größtenteils durch die Verschuldung und Finanznot der Wohnungsbaugesellschaften und -genossenschaften blockiert.
Der Stadtteil Rieth partizipiert nicht an der dynamischen Entwicklung in anderen Stadtteilen: "Er liegt im wahrsten Sinne am Rande des Geschehens. Beharrung heißt der Befund, fast gleichgültig welche sozialen Prozesse man in die Optik nimmt. Dabei trägt das relativ sichere Einkommen der Bewohner, das mit dem hohen Anteil an Renten und Transfereinkommen zustande kommt, sowohl zu Beharrung als auch zur Balance der Verhältnisse auf diesem Niveau bei. (...) Am Rieth dominieren nicht die sozial krassen Fälle, die den Befürchtungen von der Verslummung der Neubaugebiete Berechtigung geben könnten. Allerdings gehen damit alle Probleme einer tendentiellen Überalterung der Stadtbevölkerung einher. Wesentlich schärfer sind die Probleme vermutlich in jüngeren Gebieten, in denen auch die Bevölkerung jünger ist und noch ganz anders von den Problemen der Arbeitslosigkeit und der Abwertung der beruflichen Qualifikationen betroffen ist" (WEISKE 1996, S. 188).
Per Saldo war in den Plattenbausiedlungen der Stadt nach der Wende ein unterdurchschnittlicher Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen (vgl. Tab. 30). Dies ist einerseits auf die höhere Immobilität durch den überdurchschnittlichen Anteil von Transfereinkommensbeziehern (Arbeitslose, Rentner usw.) unter den Bewohnern zurückzuführen. Andererseits verdeutlicht ein Blick auf die innerstädtische Umzugsbilanz (vgl. SCHUBERT 1996), daß die Wegziehenden durch aus der Kernstadt verdrängte Haushalte ersetzt werden. Die Zahl der Wegzüge gibt jedoch noch keine Auskunft über die latenten Umzugswünsche der Bewohner. Nach einer im Frühjahr 1995 durchgeführten Befragung von 280 Haushalten mit schulpflichtigen Kindern tragen sich 45 % der Haushalte mit Umzugsgedanken. Als Wunsch steht das eigene Haus mit gut 60 % weit an erster Stelle, gefolgt von Mietwohnungen im sanierten Altbau (13,2 %) und im renovierten Plattenbau (12,5 %). Dementsprechend geben 55 % der Haushalte als Grund für den Umzug den Erwerb von Haus- und Wohneigentum an, und knapp 35 % verweisen auf die gegenwärtig zu kleine Wohnung. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt eine Umfrage der Infas-Sozialforschung, welche durch die Landesentwicklungsgesellschaft Thüringen in Auftrag gegeben wurde. Man schätzt, daß ein Fünftel aller Mieterhaushalte des Landes darüber nachdenken, Wohneigentum zu erwerben, wobei das eigene Haus mit 75 % weit vorne rangiert. Allerdings gehen die befragten Haushalte von zu optimistischen Preisvorstellungen aus: 240.000 DM gelten als angemessen (vgl. FAZ vom 23.2.1996).
45 % umzugsbereite Haushalte heißt aber auch, daß 55 % bleiben wollen. So äußert sich ein Fünftel der Befragten über die Wohnung sowie die Umgebung unzufrieden, fast ein Drittel dagegen zufrieden. Etwa die Hälfte der Haushalte sieht sowohl positive als auch negative Aspekte der Wohnqualität. Um diese nachhaltig zu verbessern und damit der sozialen Erosion entgegenzuwirken, ist die Sanierung der Plattenbauten dringend zu empfehlen. Denn 50 % bis 75 % der Befragten sind der Meinung, daß eine Modernisierung der Ausstattung (Bad/Dusche, WC, Zentralheizung, Fenster) und eine Gebäuderenovierung (Fassade, Treppenhaus, Hauseingang) noch zu erfolgen haben.
Die älteren Großsiedlungen unterscheiden sich von den in den achtziger Jahren errichteten Siedlungen neben der Altersstruktur ihrer Bewohner (vgl. Kap. 6.1.2) auch durch die Zahl der Hochhäuser. Während man in den sechziger Jahren große Anstrengungen unternahm, Wohnhochhausbau mit industriell hergestellten Typenelementen zu ermöglichen, erkannte man im Lauf der siebziger Jahre, daß die Hochhausbebauung doch nicht so wirtschaftlich war wie erwartet. Daher ging man wieder zu niedriggeschossigeren Häusern über (vgl. LOCK 1991, S. 34). Im Falle der ab 1981 errichteten Siedlung am Herrenberg (vgl. Abb. 51) wurde die architektonische und bautechnische Aufgabenstellung zusätzlich durch die für den industriellen Wohnungsbau ungünstigen naturräumlichen Gegebenheiten mit Hangneigungen bis zu 15 % erschwert. Die Gebäude des Stadtteils wurden mit der WBR 80-Erfurt, einer Anpassung der WBS 70 an das stark reliefierte Gelände, realisiert (vgl. SCHEIDER/THOMANN/ WEINGART 1984, S. 524ff.).
Trotz zweier Wohnkomplexzentren ist die infrastrukturelle Ausstattung des Gebietes als unzureichend zu bezeichnen. Zudem wurden diese Einrichtungen größtenteils erst mehrere Jahre nach dem Einzug der ersten Mieter fertiggestellt. Viele dringend erforderliche Einrichtungen waren anfangs provisorisch in Wohnungen untergebracht. Tabelle 29 dokumentiert diese Disparitäten der Infrastrukturaustattung zwischen den älteren – im Norden gelegenen – und den neueren, im Süden der Stadt errichteten Neubaugebieten. Geradezu zynisch kommentierten die Stadtplaner den offensichtlichen Mangel an Freizeiteinrichtungen. Nach Ihrer Meinung waren "Aufwendungen für die Feierabenderholung nicht erforderlich wegen der Nachbarschaft zu Naturräumen mit hohem Rekreationspotential" (RIESE 1984, S. 40).

Während die Zahl der Kinderkrippenplätze ausreichend war, kennzeichnet der bereits im letzten Generalbebauungsplan (GBP/GVP Erfurt 1989, S. 27) angemahnte – bis heute nicht erfolgte – Bau von Arztpraxen, eines Krankenhauses, eines Pflegeheimes sowie einer Polytechnischen Oberschule die Lücken in der Ausstattung des Wohngebietes. Lediglich im Bereich der Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs und der Schaffung von Sporteinrichtungen konnte man bislang Verbesserungen erzielen. Ein großes Problem bereitet den Stadtplanern die stark gestiegene individuelle Motorisierung der Bewohner. War man bei der Planung des Wohngebietes von 0,5 PKW/Haushalt ausgegangen, beträgt diese Quote heute 1,18 mit steigender Tendenz.

Tab. 29: Einzelhandelsausstattung der Neubaukomplexe im Norden und Süden Erfurts 1987
  Gesamt- stadt Stadt- zentrum Neubau Nord Neubau Süd
Waren des täglichen Bedarfs
vorhandene Verkaufs- stellen

383

143

12

6

Verkaufsraum- fläche [m²]

29.281

10.319

6.070

2.218

fehlende Verkaufs- raumfläche [m²]

721

254

-

144

Industriewaren
vorhandene Verkaufsstellen

244

168

8

2

Verkaufsraum- fläche [m²]

31.425

25.688

1.319

291

fehlende Verkaufs- raumfläche [m²]

4.101

2.839

-

277

Gaststätten
vorhandene Gaststätten

266

108

10

3

vorhandene Gaststätten- plätze

18.880

8.035

2.052

294

fehlende Gaststätten- plätze

827

355

322

458

Quelle: Einzelhandelskonzeption des Rates der Stadt Erfurt (1987), zit. nach GBP/GVP Erfurt (1989, S. 26)

Ziel der städtebaulichen Weiterentwicklung der Plattenbaugebiete ist die Entwicklung einer tragfähigen funktionalen und sozialen Integration der Siedlung in den Stadtorganismus. Nur so kann sichergestellt werden, daß die heterogene Sozialstruktur beibehalten wird und der "Wettbewerbsdruck" (Breuer/Hunger 1992, S. 430) durch revitalisierte Altstadtgebiete und neue Eigenheimsiedlungen nicht zu einer sozialen Erosion führt. Ebenso ist die Komplettierung der Großwohnsiedlungen mit Infrastruktureinrichtungen eine wichtige Voraussetzung zur sozialen Stabilisierung dieser Wohngebiete, dies umso mehr als durch die arbeitslosigkeits- und alterungsbedingte erhöhte Tagesanwesenheit der Bevölkerung die Lücken und Mängel stärker wahrgenommen werden (vgl. SCHÄFER 1996, S. 343).
Es bleibt abzuwarten, ob es durch Eingriffe, die über wohnumfeldverbessernde Maßnahmen hinausgehen, gelingt, ein Absinken der Attraktivität zu verhindern. Die derzeit zu beobachtenden Prozesse – Abwanderung einkommensstärkerer Haushalte und Zuwanderung von aus der Kernstadt verdrängten Bevölkerungsgruppen – sprechen für den Abstieg. Hinzu kommt, daß die zunehmende Zahl von neu gebauten oder modernisierten Wohnungen die zu DDR-Zeiten vergleichsweise hohe Ausstattungsqualität der Plattenbauwohnungen hinter die neuen Ausstattungsstandards zurücksinken läßt. Allein die Zahl und der Anteil der Wohnungen in den Erfurter Plattenbausiedlungen verbietet eine schematische Übertragung der Beobachtungen aus westdeutschen Großwohnsiedlungen.

[Zurück zum Modell] [MATEO Übersicht Dissertationen] [MATEO Homepage]