MATEO - Mannheimer Texte Online
Im folgenden abschließenden Kapitel soll versucht werden, aus dem, was bisher zur Anwendung der Theorie der Autopoise auf schizophrene Phänomene herausgearbeitet worden ist, einige Anregungen für die Erforschung und Theorie schizophrener Störungen abzuleiten. Diese Anregungen sind in Anlehnung an GROEBEN (1981) am ehesten als "regulative Zielideen" beschreibbar, deren Konkretion anhand von exemplarischen Therapie- und psychiatrischen "Alltagssituationen" aufgezeigt wird. Der Fokus dieser Arbeit ist auf das von einem Beobachter als "schizophren" beschriebene Individuum gerichtet - so wie auch MATURANA Systemzusammenhänge "höherer Ordnung" kaum fokussiert. Dieser Blickwinkel soll auch im folgenden stringent beibehalten werden (wenngleich sich auch eine andere Perspektive aus der Beschäftigung mit der Theorie der Autopoiese ergeben kann, in der dann der Systemkontext weiter gefaßt wird, wie es etwa bei dem systemischen Ansatz von SIMON (1995) deutlich wird).
Die naturwissenschaftlichen Studien, die MATURANA selbst im retinoptischen Bereich, so etwa zur Theorie des Farbsehens, durchgeführt hat, orientieren sich an klassischer naturwissenschaftlicher Methodik. Da es sich bei der Schizophrenieforschung um die Erforschung sehr komplexer lebender Systeme und ihrer selbstregulatorischen Prozesse handelt, ist es kohärent, eine methodologische Modellierung anzustreben, die dem Theoriemodell entspricht. In jüngerer Zeit hat sich ein interdisziplinärer Forschungsansatz - die Synergetik - herauskristallisiert, der sich die Erforschung selbstorganisierter Systeme zum Ziel gesetzt hat (zum Beispiel SCHIEPEK 1991, TSCHACHER et al. 1992). *53
MATURANA und VARELA selbst haben für die Theorie der Autopoiese keine Formalisierung entwickelt. Hintergrund dieser Aporie ist wahrscheinlich die Annahme, daß ein System eher ein Ordnungsprinzip des Beobachters als eine Objekteigenschaft ist. Die Gefahr, bei einer ausgefeilten Formalisierung und Operationalisierung diese Prämisse nicht zu beachten, ist nicht von der Hand zu weisen. Bisher liefert vor allem der chaostheoretische Ansatz, auf den wir mehrfach verwiesen haben, eine formalisierbare Theorie der Dynamik komplexer Systeme. *54
5.1.1 Prämissen einer möglichen Formalisierung
Das chaostheoretische Paradigma, wie es vor allem PRIGOGINE und STENGERS (1986) formuliert haben, kann als Weiterentwicklung der Allgemeinen Systemtheorie angesehen werden und beschäftigt sich vor allem mit nicht-linearen Entwicklungssprüngen im Rahmen der Dynamik komplexer Systeme. Im Fokus steht dabei die Beobachtung, daß sowohl in lebenden wie auch in nicht lebenden komplexen Systemen immer wieder ähnlich verlaufende selbstorganisatorische Prozesse stattfinden, die unter der Zufuhr von Energie und unter dem Einfluß von Feedback-Schleifen jenseits von Gleichgewichtszuständen neue Organisationsformen zeitigen. Diese werden als "dissipative Strukturen" bezeichnet, da sie die zugeführte Energie in komplexerer Weise organisieren. Abhängig von der Sensibilität der Ausgangsbedingungen und von Umgebungseinwirkungen (Fluktuationen) besteht an einem kritischen Punkt die Alternative zweier oder mehrerer Entwicklungsmöglichkeiten (Bifurkationen). Die gewählte Entwicklungsmöglichkeit ist zeitlich nicht reversibel. Die Organisationsformen, auf die ein System zutreibt, werden Attraktoren genannt. Dabei kann es sich sowohl um stabile Zustände als auch um periodische Oszillationen oder repetitorische Prozesse handeln. Bei einem Teilbereich der Attraktoren, den sogenannten "seltsamen Attraktoren", weisen repetitorische Prozesse ein gemeinsames Grundmuster, eine Selbstähnlichkeit auf (Fraktale). Das heißt, daß sie in verschiedenen Maßstäben gleichen Gesetzmäßigkeiten unterworfen sind. Diese Gesetzmäßigkeit ist als gebrochene Zahl (die fraktale Dimensionalität) beschreibbar. Die Prozesse selbst lassen sich dabei in einem Phasenraum, der die wichtigsten Variablen erfaßt, abbilden. Die abgebildeten Trajektorien sind zwar prinzipiell nicht vorhersagbar, die Systementwicklung insgesamt ist jedoch determiniert.
Nachdem Prozesse, wie die Chaostheorie sie beschreibt, in einer Vielzahl verschiedenster Systeme nachgewiesen worden sind, *55 werden in neuester Zeit auch, wie erwähnt, psychologische und psychophysiologische (vgl. SCHIEPEK 1991) sowie psychopathologische Phänomene (CIOMPI et al. 1992) unter chaostheoretischem Blickwinkel untersucht. Eine entsprechende methodologische Anwendung auf das Gebiet schizophrener Selbst-Demarkation ist legitim, wenn man die Theorie der Autopoiese zugrunde legt, da hierbei Funktionen und nicht Kausalitäten fokussiert werden.
5.1.2 Zwei mögliche ZugängeIn Kapitel 4.3.2 wurde unter anderem ausgeführt, wie Balancierungsprozesse im psychotischen Prozeß als zweiphasige Zustandsveränderung imponieren. Der Prozeß der Zustandsveränderung nun läßt sich mit Hilfe der BOOLE'schen Logik darstellen (vgl. THOMAS 1979). Hierbei wird jedem Element eines Systems eine logische Variable für den aktuellen Zustand (klein geschrieben) und eine logische Funktion für die Entwicklungstendenz (groß geschrieben) zugeordnet. Der Einfachheit halber betrachten wir den Prozeß der Zustandsveränderung als durch drei Variablen definiert: Die Determiniertheit des Gesamtsystems, den Balancierungsgrad sowie mögliche Perturbationen. Balancierungsgrad und Perturbationen sind dabei interaktiv miteinander verknüpft.
Abbildung 4 veranschaulicht diese Verknüpfung unter der Bedingung der Systemdeterminiertheit, wie sie für operational geschlossene Systeme postuliert wird, als Pfeildiagramm und als zugehörigen Algorithmus. Dieser Algorithmus ist die Grundlage für die in Abb. 5 wiedergegebenen Zustandsveränderungen bei psychotischen Prozessen.
P | = Psychose (0/1/2) | |
d | = Determiniertheit (0/1) | |
b | = Balancierung | 0 = Gleichgewicht 1 = unter- 2 = überbalanciert |
pe | = Perturbation (0/1) | Dabei gilt: P = d . (b.pe) . = logisches Produkt |
Abb. 4
Der Einfachheit halber soll das Vorhandensein einer Psychose lediglich mit drei Werten codiert werden: Ein Beobachter kann entweder ein Individuum als psychotisch (2), präpsychotisch (1) oder nicht psychotisch (0) beschreiben. Alle Zustandsveränderungen lassen sich in einer Matrix darstellen, wobei die Funktionswerte der Psychose (P) auf der rechten Spalte abgetragen werden:
b | pe | P | b | pe | P | ||||
0 | 0 | 0! | 1+ | 0 | 0 | ||||
0 | 0+ | 0 | 1+ | 0+ | 2 | ||||
0 | 1 | 0! | 1+ | 1 | 2 | ||||
0 | 1- | 0 | 1+ | 1- | 0 | ||||
0+ | 0 | 0 | 2 | 0 | 0! | ||||
0+ | 0+ | 1 | 2 | 0+ | 2 | ||||
0+ | 1 | 1 | 2 | 1 | 2! | ||||
0+ | 1- | 0 | 2 | 1- | 0 | ||||
1 | 0 | 0! | 2- | 0 | 0 | ||||
1 | 0+ | 1 | 2- | 0+ | 1 | ||||
1 | 1 | 1! | 2- | 1 | 1 | ||||
1 | 1- | 0 | 2- | 1- | 0 | ||||
1- | 0 | 0 | b = Balanzierung pe = Perturbation P = Psychose Zeichen über einem Wert: - = Tendenz zum Verschwinden + = Tendenz zum Auftreten/Zunehmen kein Zeichen = stabil ! = stabiler Attraktor |
||||||
1- | 0+ | 0 | |||||||
1- | 1 | 0 | |||||||
1- | 1- | 0 | |||||||
d=1 | |||||||||
Abb. 5
Die Matrix weist - wenn die Tendenzen zur Zustandsveränderung in der linken Spalte mit berücksichtigt werden - insgesamt sechs stabile Konstellationen auf, die auf drei verschiedene attraktorartige Zustände hinauslaufen. Dabei ist 0 der häufigste Funktionswert, gefolgt von 2 und 1. Die Matrix verdeutlicht, daß es weit mehr Konstellationen gibt, die auf einen nicht psychotischen Zustand hinauslaufen, als umgekehrt. Die meisten Konstellationen erweisen sich jedoch als instabil. Desweiteren ist etwa an dem Beispiel der Konstellation b = 1+/ pe = 0+ zu erkennen, wie leicht ein präpsychotischer Zustand bei geringstem Anlaß in eine akute Exacerbation umschlagen kann. Hier zeigt sich die Sensibilität von den Ausgangsbedingungen.
Die Matrix suggeriert, daß alle Konstellationen gleich wahrscheinlich sind. Dies ist natürlich unrealistisch. Für eine subtilere Analyse, die an tatsächlichen Prozessen und nicht nur an logischen Verknüpfungen interessiert ist, muß deswegen ein anderes methodisches Vorgehen gewählt werden. In Frage kommt hier am ehesten die Zeitreihenanalyse, wie sie unter anderem von REVENSTORF (1979) dargestellt worden ist. Hierzu möchte ich als Beispiel ein Transkript vorstellen, das Auszüge aus drei Sitzungen an aufeinanderfolgenden Tagen mit einer schizophrenen Patientin enthält. *56
Transkript 4:
t1
Therapeut: Wie haben Sie den heutigen Tag verbracht, Frau L.? Frau L.: Oh, ich war erst in der Ergotherapie; anschließend habe ich in dem Buch von H. Hesse gelesen, das ich Ihnen gezeigt habe. Diese Erzählung hier [zeigt Th. eine Novelle] würde ich gern in der IPT-Gruppe *57 besprechen, mindestens Kapitel 1. Therapeut: Das würde ich mir gerne vorher durchlesen. Kann ich das Buch bis morgen behalten? Frau L.: Sicher [gibt Th. das Buch]. - Sie schauen so skeptisch!? Therapeut: Nein, ich möchte nur sehen, ob der Text für uns geeignet ist. Frau L.: Gut, dann bis morgen [verabschiedet sich].
t2
Frau L.: Guten Tag, Herr E.! - Haben Sie den Hesse-Text gelesen? Therapeut: Ja, er gefällt mir gut. Ich fürchte nur, er ist etwas lang. Frau L. [schaut aus dem Fenster, zögert, dann unvermittelt]: Sie sind heute so anders, Sie sehen aus, als ob Sie sich über mich lustig machen! Therapeut: Ich weiß nicht genau, ob Sie jetzt ärgerlich oder ängstlich sind. Frau L.: Hier muß man ja Angst haben. Irgendwas geht hier auch vor, ich bin mir nur nicht sicher, was [nimmt das Buch und geht].
t3
Therapeut: Guten Morgen, Frau L.! Wie geht es Ihnen? Frau L.: Wie soll's mir schon gehen! Das wissen Sie doch sowieso genau. Ich seh's an Ihren Augen, da ist Spott drin, weil Sie mir nichts zutrauen. Weil Sie denken, ich verstehe nicht, was ich lese, weil ich nicht studiert hab'! Sie wollen mich fertigmachen, ich spür's! Therapeut: Woran spüren Sie das? Frau L.: Fragen Sie doch nicht! Im Kopf natürlich, da brennt's wieder, das waren doch Sie!
Perturbationen und Balancierungsgrad lassen sich nun in ein zeitabhängiges Koordinatensystem übertragen, wie es folgende Abbildung idealtypisch zeigt.
b = Balancierung (0 = unter-, 1 = überbalanciert) |
t1 = Perturbation zum Zeitpunkt t1 |
Abb. 6
Betrachtet man das Transkript inhaltsanalytisch, so kann man deutlich sehen, wie über drei Zeitpunkte hinweg, bei denen der Therapeut perturbierend wirkte, sich der Zustand der Patientin von einem Balancierungsgrad relativen Gleichgewichts über einen Zustand der Unterbalanzierung bis zu einer schließlichen Überbalanzierung veränderte. Gleichzeitig erhalten fremdreferente Aussagen (der "Blick" des Therapeuten) den Charakter selbstreferenter Aussagen. Entsprechend ließen sich auch der Grad der Selbstreferentialität über eine Zeitreihe hinweg analysieren:
SR | = Selbstreferentialität bei fremdreferenten Aussagen |
t1 | = Perturbation zum Zeitpunkt t1 |
Abb. 7
Zum Zeitpunkt t3 sehen wir des weiteren, wie eine Modifikation der attributiven Kategorie Subjektzentrierung zu einer passiven Subjektivierung vorgenommen wird ("Da brennt's wieder, das waren doch Sie!").
5.1.3 Plädoyer für eine deskriptive WissenschaftDie bisherige Forschung im Bereich der Schizophrenieforschung folgt weitgehend dem Modell des Ariadnefadens: Ausgehend von einem die Wissenschaft interessierenden, weil normabweichenden, Verhalten, wird versucht, das komplexe Labyrinth der Kausalitäten zu durchqueren, bis man das Zentrum gefunden hat, wo der kausale Strang, der Faden der Ariadne, entspringt. Für die Charakterisierung dieses Modells ist es unerheblich, ob dieses Zentrum als "multifaktoriell" beschrieben wird oder, einer anderen Attitüde folgend, die Forschung, die dort hin führt, als interdisziplinär, was in der Regel heißt, daß von verschiedenen Ausgangspunkten her verschiedene Fäden zu dem gleichen Zentrum führen sollen. Für operational geschlossene Systeme erscheint ein solches Vorgehen inadäquat. Den erwähnten methodischen Zugängen ist deswegen eine gewisse Bescheidung eigen, da sie letzten Endes deskriptiv sind. Das Medium ist die genaue Beobachtung, die sich selbst als Beobachtung hinterfragt. Beschrieben werden dabei Prozesse, bei denen Perturbationen eine wichtige Rolle spielen, sowie Zustände und deren Übergangswahrscheinlichkeiten. Die Regelmäßigkeiten, die dabei "entdeckt" werden, haben stochastischen Charakter. Dem Modell des Ariadnefadens wird so das Modell des Wassertropfens entgegengestellt: Fällt dieser nämlich auf eine ebene Wasserfläche, so führt dies auf und unter der Wasseroberfläche zu prinzipiell nicht vorhersagbaren Bewegungen, die doch ein klar erkennbares Muster aufweisen. Diese Muster im Kontext des eigenen Verhaltens und der eigenen Beobachtung zu beschreiben, sollte zunächst die bescheiden klingende, in Wirklichkeit aber anspruchsvolle Aufgabe psychologischer Schizophrenieforschung sein. Da ihr Forschungsgegenstand von dynamischen Systemen gebildet wird, sollten Zustände eher als Entitäten, Prozesse eher als Zustände Objekt der Beschreibung sein.
Die Therapie der Psychosen, wie sie heute praktiziert wird, umfaßt im wesentlichen, sei es im ambulanten, sei es im stationären Setting, in unterschiedlicher Gewichtung drei Dimensionen: Die gesprächstherapeutische, die medikamentöse sowie die soziotherapeutische.
Zunächst soll die gesprächstherapeutische Dimension betrachtet werden (ohne daß darunter eine Einengung auf klientenzentrierte Ansätze zu verstehen wäre). Denn sie stellt den Rahmen auch für alle anderen therapeutischen Dimensionen dar, auch wenn diese letzten Endes im Übergewicht sein sollten. Hierbei ist der zentrale Aspekt der der Schaffung und Ausweitung eines konsensuellen Bereiches. Das folgende Gesprächsprotokoll - aus dem Kontext eines Erstgespräches mit einem auf eine längerfristig orientierte Station des PLK Wiesloch übernommenen Patienten - mag dies verdeutlichen:
Transkript 5:
Herr B.: Es hat gar keinen Sinn, daß wir uns unterhalten. Sie glauben mir ja doch nicht. Therapeut: Woran, denken Sie, könnte das liegen? Herr B.: Ich kann's Ihnen nicht beweisen. Das kann ich erst, wenn ich entsperrt werde. Therapeut: Was heißt das? Herr B.: Ich bin nicht voll kontaktfähig; das bin ich erst, wenn die Geister Körper und Gehirn in Übereinstimmung bringen. Ich spüre, daß das bald der Fall sein wird. Therapeut: Ich denke, wir sollten auch die Zwischenzeit nicht ungenutzt verstreichen lassen, da wir ja gemeinsam planen möchten, wie es weitergeht. Vielleicht können wir uns gegenseitig nicht völlig verstehen, aber wir können es sicher in Ansätzen. Haben Sie eine Idee dazu? Herr B.: Ich könnte Ihnen meine Zeichnungen und Gedichte zeigen. Therapeut: Das, finde ich, ist eine gute Idee. Herr B.: Aber es geht dabei um wahre Beobachtungen. Die Geister, mit denen ich in Verbindung stehe, sind eine Realität! Therapeut: Sie haben Dinge erlebt, die ich so nicht erfahren habe. Dabei benutzen Sie Ausdrücke, mit denen ich nicht so viel verbinde wie Sie. Wir sollten uns nicht um Begriffe streiten, indem wir über die Existenz oder Nichtexistenz von Geistern streiten. Ich möchte zunächst einmal verstehen lernen, was mit Ihnen passiert. Können wir uns darauf einigen? Herr B.: Gut.
In diesem Gesprächsbeispiel beschreibt der Patient in augenfälliger Weise den subjektiv erlebten Zusammenhang zwischen Selbstdemarkation und Binnendifferenzierung. Die Möglichkeit einer strukturellen Koppelung wird im Zusammenhang gesehen mit der Koppelung von Körper und Gehirn, was durch eine Fremdbeeinflussung erreicht werden soll. An diesem Beispiel lassen sich vier therapeutische Prinzipien darstellen, die mit der Etablierung eines konsensuellen Bereiches im Rahmen eines Therapieprozesses einhergehen:
Die gemeinsame Konstruktion einer therapeutischen Realität, wie sie im oben erwähnten Therapieausschnitt erzielt wird, ist, insbesondere bei als "chronisch" geltenden schizophrenen Patienten, nicht die Regel, wie folgendes Gesprächsprotokoll zeigt:
Transkript 6:
Herr Sch.: [Singt ein polnisches Lied] Therapeut: Können Sie mir das übersetzen? Herr Sch.: Wozu? Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Sie verstehen jedes Wort! Therapeut: Ich verstehe kein Polnisch. Herr Sch.: Jeder versteht das! Sie als Angehöriger des polnischen Hochadels sollten mich nicht für dumm verkaufen und sich verstellen, eine unwürdige Camouflage! Jaruzelski persönlich hat mir zu verstehen gegeben, wo Sie stehen! Therapeut: Telepathisch? Herr Sch.: Ja; Sie wissen, daß sich daraus mein Wissen speist. Therapeut: Aber nicht alles. Oder das [zeigt auf das verschmutzte Hemd des Patienten] über Körperpflege auch? Herr Sch.: Jetzt fangen Sie wieder mit diesen Belanglosigkeiten an! Ich spreche in der Kunst- und Sie in der Alltagssprache. Therapeut: Ich möchte, daß wir künftig die halbe Zeit des Gesprächs in der Kunst- und dann in der Alltagssprache reden. Einverstanden? Herr Sch.: Sagen wir - zwei zu eins!
In diesem Beispiel eröffnet der Patient das Gespräch mit dem Versuch einer einseitigen Konstruktion eines konsensuellen Bereiches - in psychopathologischen Kategorien wohl ein Transitivismus. Da der Patient die Grenzziehung des Therapeuten nicht toleriert, versucht dieser, eine Art "territorialen Kompromiß" vorzuschlagen, indem er die Begriffe der "Kunst-" und "Alltagssprache" aufgreift und so eine Einigung über eine Sprachregelung erzielt, die unterschiedliche sprachliche Bereiche mit unterschiedlicher konsensueller Breite definiert.
Diese Strategie läßt sich auch im Kontext der Soziotherapie anwenden, wie das folgende Beispiel zeigt:
Transkript 7:
Therapeut: Ich wollte Ihnen vorschlagen, daß Sie in die Werktherapie gehen, Herr B. Unsere Ergotherapeutin meint, Sie würden sich gut dafür eignen und davon profitieren können. Herr B.: Das kostet zuviel Zeit. Ich muß den Geistkontakt wahren, malen und schreiben. Therapeut: Ich mache Ihnen einen Vorschlag. Sie möchten ja in eine Wohngemeinschaft, und das heißt, daß sie sich auch mit einer Realität auseinandersetzen, die nicht auf Geistkontakten beruht. - Gehen Sie doch halbtags in die Werktherapie, dann bleibt Ihnen noch genügend Zeit für ihre Kontakte. Herr B.: Darf ich dabei meine Uniform [der Patient hat sich eine Phantasie-Uniform geschneidert] tragen? Therapeut: Nein, die gehört nicht in die Arbeitswelt. Sie können sie weiterhin auf Station tragen.
Hier werden verschiedenen "kognitiven Territorien" verschiedene Praktiken zugeordnet, ja sogar durch unterschiedliche Kleidung kenntlich gemacht. *58
Ist ein solches Spannungsfeld von Konsens und Dissens etabliert, so können weitere therapeutische Interventionen folgen. Eine mögliche Intervention ist die von mir "Überholung" genannte Form der Ironie. Schizophrene Menschen, die als chronisch angesehen werden, haben einen Grad an Überbalancierung erreicht, der für Variationen kaum noch offen zu sein scheint. Der Patient des nachfolgenden Beispiels befand sich zum Zeitpunkt des Gespräches seit über 10 Jahren im Psychiatrischen Landeskrankenhaus Wiesloch, war berentet und wiederholte in verschiedenen Gesprächskontexten stereotyp eine Reihe von Zukunftsvorstellungen, die aus der Perspektive des Beobachters bizarr anmuteten:
Transkript 8:
Therapeut: Welche Vorstellungen haben Sie denn für die Zeit nach der Klinik? Herr A.: Ich gehe in ein Kloster und werde Angoras züchten, eventuell Mäuse melken, das bringt mehrere Tausend Mark pro Liter. Vielleicht steige ich auch in den Ring, was halten Sie davon? Therapeut: Wollen Sie dort gegen Angoras antreten? Herr A.: Sie sind ja verrückt!
Indem der Erwartungshorizont des Patienten durchbrochen wurde, der es gewohnt war, auf Negationen seiner geäußerten Vorstellungen mit Bestärkung derselben zu reagieren, wurde das gewohnte Sprachmuster durchbrochen. Die therapeutische Intervention diente quasi als Spiegelung der eigenen kognitiven Schleifen, indem sie gewissermaßen eine Steigerung der "Verrücktheit" beinhaltete. - Etwa eine Stunde nach dieser Intervention kam der Patient erneut und fragte, abweichend von seinen bisherigen Stereotypien, ob er nicht in der Arbeitstherapie trainieren könne, um wieder, wie früher, als Werkzeugmacher zu arbeiten.
Therapeuten sind in der Regel geneigt, Reaktionen von Patienten wie die oben erwähnte auf ihre Interventionen zurückzuführen. Therapeutische Interventionen stellen jedoch - und zwar unabhängig von der therapeutischen Schule, der sie entstammen - lediglich Perturbationen für ein operational geschlossenes System dar. Die Reaktion des schizophrenen Individuums ist systemdeterminiert. Der therapeutische Prozeß ist somit offen. Im Kontext einer Supervision (z.B., wie bei der systemischen Therapie üblich, durch eine Einwegscheibe) lassen sich solche kausalen Interpretationen der Therapeuten mit diesen reflektieren. Auch lassen sich hierbei häufig Interaktionen beobachten, die für den Beobachter "von außen" auf völlig verschiedenen Prämissen zu beruhen scheint, wohingegen die Interaktionspartner selbst für sich der Überzeugung sind, einen Konsens gefunden zu haben. Die Dekonstruktion von Dialogen, wie sie in Kapitel 4.3.2.4 bereits dargestellt wurde, kann dabei eine wichtige Reflexionsquelle sein.
Für den medikamentösen Bereich gilt das Mißverständnis der Kausalität in noch viel größerem Maße. Die in zeitlicher Korrelation mit einer Umstellung der Neuroleptika auftretende Verhaltensänderung eines Patienten wird in der Regel kausal attribuiert. Alle anderen Kontextvariablen werden hingegen meistens vernachlässigt. Noch mehr wird übersehen, daß auch Neuroleptika Perturbationen für das neurophysiologische System darstellen. Auch wenn eine direkte Wirkung der Neuroleptikagabe auf die Aufnahme (oder Freisetzung) von Transmittern nachgewiesen wird, so sind schon die neuronalen Aktivitätsmuster, viel mehr jedoch noch die Verhaltensweisen des somato-psychischen Gesamtsystems determiniert und nicht instruierbar. Daraus läßt sich für die psychopharmakologische Therapie zweierlei schließen: Zum einen heißt dies, daß der antipsychiatrische Impetus, der sich undifferenziert gegen den jeglichen Einsatz von Psychopharmaka wehrt, in gewisser Weise ins Leere läuft, weil er, ebenso wie radikale Richtungen der biologischen Psychiatrie, die spezifische Wirkung von Psychopharmaka weit überschätzt. *59
Zum anderen heißt dies aber auch, daß eine Sozialpsychiatrie, die den selbstkritischen und differenzierten Einsatz von Psychopharmaka befürwortet, nicht einfach aus einer Augenscheinvalidität heraus Kausalitäten konstruieren kann zwischen dem Einsatz der Psychopharmaka und dem sog. Abklingen der produktiv-psychotischen Symptomatik, zumal eine kausale Interpretation des korrelativen Zusammenhangs von Dopaminstoffwechsel und schizophrener Symptomatik empirisch und logisch keineswegs zwingend ist, wie etwa FRITH (1992) aufzeigt. Für die therapeutische Gewichtung der Psychopharmaka müssen eine Vielzahl von Kontextvariablen herangezogen werden, die ebenfalls als Perturbationen wirken, wobei die Gesamtheit dieser Variablen das Milieu definiert, in dem das Nervensystem selbststeuernd agiert.
Unabhängig von der einzelfallorientierten Gewichtung gesprächstherapeutischer, soziotherapeutischer und psychopharmokologischer Faktoren lassen sich auf der Basis der Theorie der Autopoiese zwei therapeutische Prinzipien formulieren, die für die Bereiche der Selbstdemarkation und Selbstdifferenzierung schizophrener Menschen Relevanz besitzen: Das Prinzip der Kontextualisierung und das Prinzip der reflexiven Psychoedukation.
Auf die Rolle des Kontextes sowohl für die Entstehung als auch die Beobachtung schizophrener Phänomene wurde bereits mehrfach hingewiesen. Für das schizophrene Individuum wird er gebildet durch die Gesamtheit der teils voneinander unabhängigen, teil interagierenden perturbierenden Faktoren, die in der Theorie der Autopoiese das Milieu darstellen. Weist dies eine gewisse Stabilität auf, so kommt es, wie beschrieben, zu Prozessen der strukturellen Koppelung. MATURANA und VARELA (1987) haben darauf hingewiesen, daß Interaktionsmuster von Individuen, die aus wichtigen strukturellen Koppelungen resultieren, insofern eine Eigendynamik bilden können, als sie eventuell stabil bleiben, auch wenn das umgebende Milieu gewechselt hat. *60
Die bei unterschiedlichen strukturellen Koppelungen wirksamen Interaktionsmuster bilden verschiedene Facetten jenes Prozesses, der das Selbst konstituiert. Der hiermit verbundene identitätsstiftende kognitive Prozeß basiert im sprachlichen Bereich auf rekursiven Selbstbeschreibungen, die Unterscheidungen von Unterscheidungen hervorbringen und diese auf den sozialen Bereich anwenden. Bei schizophrenen Prozessen zeigen sich hier zwei Tendenzen: Entweder die einer monadischen Selbstbeschreibung, bei der der Grad der Überbalancierung eine Generalität erreicht hat, die neue strukturelle Koppelungen verunmöglicht. Oder eine diachrone Selbstbeschreibung, wie wir sie bei der sogenannten doppelten Buchführung finden, bei der schizophrene Menschen in unterschiedlichen Kontexten unterschiedliche Selbstbeschreibungen aktualisieren. Erscheint das Selbst aus Beobachterperspektive im ersten Fall als rigide, so erscheint es im zweiten Fall als gespalten. Das Prinzip der Kontextualisierung laviert zwischen diesen beiden Polen und versucht sich an einer pluralen Identität zu orientieren, d.h. an einer nach sozialen Rollen differenzierenden Selbstbeschreibung. (Ein Beispiel hierfür ist in Transkript 6 zu finden).
Der konsensuelle Bereich ist nicht nur bei dem Prinzip der Kontextualisierung, sondern auch bei dem der reflexiven Psychoedukation impliziert. In der gegenwärtigen psychiatrischen Praxis sind psychoedukative Programme, wie sie von BRENNER, LIBERMAN u.a. vorgestellt wurden, derzeit weit verbreitet. Sie verstehen sich dabei in der Regel als komplementär zur psychopharmokologischen Behandlung und zielen einerseits auf eine Verbesserung der Compliance und andererseits auf eine Verbesserung basisstörungsnaher kognitiver Fähigkeiten. Der diesen verhaltensmodifizierenden Programmen zugrunde liegende Denkansatz entspricht im wesentlichen dem Paradigma der Informationstheorie. Erscheint diese verhaltensmodifizierende Psychoedukation von ihren Prämissen her auch nicht mit der Theorie der Autopoiese vereinbar, so heißt das nicht, daß sie aus dieser Sicht gänzlich über Bord geworfen werden müßten. Voraussetzung ist hierbei allerdings ein Lernbegriff, der sich vom informationstheoretischen Paradigma löst (vgl. 4.3.1.5).
Als Beispiel läßt sich das Unterprogramm "soziale Wahrnehmung" aus dem bereits zitierten Integrierten Psychologischen Therapieprogramm von BRENNER et al. anführen, das von mir modifiziert wurde. Ursprünglich geht es hier darum, zunehmend komplexer und affektiv belastender werdende Bilder sozialer Situationen "richtig" zu beschreiben und dies zu trainieren. Dies geschieht in der Regel mit Hilfe standardisierter Dias. Eine von mir vorgenommene Modifikation ist, sich die Patienten einer Gruppe gegenseitig mit Hilfe einer Polaroid-Kamera fotografieren zu lassen. Fokussiert wird dabei der Ausdruck von Gefühlen, der im Rahmen der Kommunikation eine große Rolle spielt. Patienten beschreiben dann zunächst Haltung, Mimik und Gestik und geben dem Fotografierten eine Rückmeldung über das aus ihrer Sicht von ihm ausgedrückte Gefühl. Eventuell einigen sie sich auf einen gemeinsamen Titel für das Bild. Der betroffene Patient hat anschließend die Möglichkeit, die Rückmeldung wiederum zu kommentieren. Der Schwerpunkt bei dieser Übung liegt also nicht auf einer Verhaltensmodifikation, sondern eher auf einer Reflexion in mehrfacher Hinsicht: Bezüglich eines konsensuellen Bereiches der Interpretation einschließlich der interpretativen Unterschiede, die diesen Konsens eingrenzen; sowie bezüglich der Selbstbeschreibung, wobei der betreffende Patient dies oft dazu nutzt, in der Psychose wirkende Balancierungsprozesse, wie sie bereits beschrieben wurden, zu erinnern und zu überdenken. Das oft wahrgenommene Übergewicht von deutenden gegenüber beschreibenden Prozessen ist hier meist Gegenstand der Reflexion. Dabei wird, als Form rekursiver Selbstbeschreibung, eine Metaposition zu früher eingenommenen Selbstbeschreibungen herbeigeführt. Die "Übung" selbst wird dabei nur als Perturbation gewertet, die solche Prozesse anregen, aber nicht instruktiv beeinflussen kann.
5.2.2 Kontrollierter Kontrollverzicht als therapeutisches ParadigmaDie bisherigen Darlegungen zum therapeutischen Geschehen stehen quer zum herrschenden, da teils von Standesorganisationen herbeigeführten Therapieverständnis, nachdem Psychotherapie "ein bewußter und geplanter interaktioneller Prozeß zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen ... mit psychologischen Mitteln ... in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel ... mittels lehrbarer Techniken auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens" ist - so etwa das "Forschungsgutachten zu Fragen eines Psychotherapeutengesetzes" von MEYER et.al (1991). Und noch deutlicher die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und Krankenkassen über die Durchführung der Psychotherapie in der kassenärztlichen Versorgung: "Psychotherapie ... wendet methodisch definierte Interventionen an, die auf als Krankheit diagnostizierte seelische Störungen einen systematisch veränderten Einfluß nehmen." (beides zitiert nach LIEB, 1995, p. 119). Das so skizzierte Kontrollparadigma therapeutischen Handelns setzt ein Verständnis von Interaktionen voraus, die instruktiv ablaufen, wie im Kommunikationsmodell der Informationstheorie. Am eindeutigsten hat dieses Therapieverständnis sich in der frühen Verhaltenstherapie nach SKINNER (1953) niedergeschlagen. *61 Die sog. "kognitive Wende" auch in der Verhaltenstherapie rückt zwar die Selbstkontrolle in das Zentrum ihrer Betrachtungen, ohne jedoch die damit verbundenen erkenntnistheoretischen Widersprüche zu lösen, wie es GROEBEN (1986) aufgezeigt hat.
Wenn Therapie als die Konstruktion eines gemeinsamen kognitiven Raumes aufgefaßt wird, ergeben sich daraus Schlußfolgerungen auf zwei Ebenen: auf einer technologischen und einer "metatechnologischen" Ebene. Die erste betrifft die Angemessenheit therapeutischer Interventionen. Für die Therapie schizophrener Patienten steht eine Vielzahl therapeutischer Interventionsformen zur Verfügung, die sich aus unterschiedlichen Handlungszusammenhängen und Theoriehintergründen speisen. Sie reichen von der Beeinflussung des dopaminergen Neurotransmittersystems via Neuroleptika über psychoedukative und klassisch psychotherapeutische Ansätze bis hin zu sozio- und ergotherapeutischen Interventionen. Wenn man das wissenschaftstheoretische Kriterium der Stringenz heranzieht, so ist es sicherlich möglich, diese verschiedenen Interventionsformen auf ihre Angemessenheit hin zu überprüfen. Der Beurteilungsmaßstab wäre dann, inwieweit das technologisch-therapeutische Instrumentarium sich theoretisch ableiten läßt aus der zugrunde liegenden, oben angeführten Prämisse. So ist augenscheinlich, daß systemische Überlegungen zu therapeutischen Interventionen, die explizit konstruktivistische Annahmen rezipieren, ein höheres Maß an Stringenz bezüglich der Prämisse der Konstruktion gemeinsamer kognitiver Räume aufweisen als Modelle, die keinerlei konstruktivistischen Hintergrund haben.
Nun sagt die wissenschaftstheoretische Stringenz eines Modells noch nichts über die Viabilität therapeutischer Interventionen in einem spezifischen Kontext aus. Die Perspektive vervollständigt sich erst, wenn wir die zweite, "metatechnologische" Ebene heranziehen. Hier geht es um die Deskription der Interaktionen innerhalb eines therapeutischen Systems. Die Beschreibungsmodalitäten können sich dabei direkt auf konstruktivistische Annahmen beziehen und Verhaltensänderungen eines Organismus in bezug auf die Kontingenz zu den Interaktionen des Organismus mit seinem Medium betrachten. Auf der technologischen Ebene verläuft Kommunikation, wie im Alltagshandeln auch, nach dem "als ob"-Muster: nämlich so, als ob therapeutische Interventionen nach dem Modell der Informationstheorie funktionieren würden und instruktiven Charakter hätten, sie somit also eine Veränderung des Organismus determinieren könnten.
Selbst wenn die den Interventionen zugrunde liegende Theorie die Selbstkontrolle des Individuums in den Vordergrund stellt, so ist es doch diese "autopoetische Blindheit", die das Kontrollparadigma realisieren hilft. Denn auch dann, wenn zunehmende Selbstkontrolle des Individuums das Ziel einer Therapie ist, wie z.B. von FIEDLER (1981) dargestellt, so kann sich doch der Therapeut mit seinen Interventionen quasi als unabhängige Variable des therapeutischen Prozesses betrachten, um dieses Ziel zu erreichen oder nicht. Wie im Alltagshandeln, so hat diese Strategie auch hier einen großen Vorteil. Denn in der Wahrnehmung des Therapeuten (bzw., natürlich hier mitgemeint, der Therapeutin) wird der therapeutische Prozeß selbst in seiner Wahrnehmung klarer strukturiert und durch seine Interventionen "handhabbarer". Dies führt zu einer Aufwertung des Expertenstatus des Therapeuten, der danach streben wird, die Interventionen, die er für instruktiv hält, zu vervollkommnen und so technologisches Wissen anzureichern.
Die auf der technologischen Ebene vom Therapeuten eingenommene Position läßt sich somit als Expertenstatus beschreiben. Die auf der metatechnologischen Ebene eingenommene Position, die sich strikt der logischen Buchhaltung verpflichtet fühlt, kann als Beobachterstatus bezeichnet werden. Beide Ebenen bzw. Statusfunktionen stehen in einem dialektischen Spannungsfeld zueinander. Dabei besteht die Möglichkeit, das Spannungsfeld jeweils zu einem Pol hin aufzulösen. Die der einseitigen Betonung des Expertenstatus inhärente autopoietische Blindheit kann im therapeutischen Prozeß auf der Seite des Therapeuten zu Kognitionen führen, die zwischen Allmacht und Ohnmacht fluktuieren. Der therapeutische Prozeß läuft so Gefahr zu "kippen", bevor das zu Beginn aber auch während der Therapie ausgehandelte Therapieziel erreicht ist. Umgekehrt kann die einseitige Betonung des Beobachterstatus dazu führen, konsensuelle Konstruktionen mit sozialer Symmetrie zu verwechseln, indem ein Gleichgewicht zwischen Therapeut und Klient postuliert wird. *62 Dieses Postulat wird jedoch dem therapeutischen Geschehen in dreifacher Hinsicht nicht gerecht, vor allem, wenn wir uns auf die Therapie der Schizophrenie beziehen:
Die Alternative zur einseitigen Betonung einer der beiden Statusfunktionen liegt in deren Integration. Auf der Ebene therapeutischen Handelns erscheint dies möglich, indem die Statusfunktion fluktuiert. So kann sich der Therapeut während des therapeutischen Geschehens so verhalten, "als ob" er die Kontrolle über den therapeutischen Prozeß habe und somit Ressourcen mobilisieren, indem sein Expertenstatus zum Tragen kommt. In einer weiteren Sequenz kann er jedoch dieses Geschehen als Beobachter reflektieren, indem er sich der Unmöglichkeit der Außensteuerung operational geschlossener Systeme bewußt wird. Erst wenn beide Ebenen bzw. Statusfunktionen so aufeinander bezogen werden, daß sie sich miteinander verzahnen, entspringt den beiden Polen der dialektischen Spannung die Kraft zur Synthese, die sich als "kontrollierter Kontrollverzicht" beschreiben ließe.
5.3. Kritisches ResümeeDie angestellten Überlegungen zu Aspekten von Forschung und Therapie haben zweifellos fragmentarischen Charakter. Sie können und sollen nicht mehr sein als Hinweise auf möglicherweise begehbare Wege, deren tatsächliche Gangbarkeit (oder eben: Viabilität) sich erst noch wird erweisen müssen. Dabei knüpfen die gewählten Beispiele ganz bewußt an klinisches (Alltags-) Handeln an. Möglicherweise geschieht dies um den Preis mangelnder radikaler Innovation: Aber m.E. muß eine Theorie, in welch radikalem, "paradigmenerneuernden" Gewand sie auch auftritt, zunächst an den Erfahrungshorizont derjenigen sich ankoppeln, die dem Phänomen am nächsten stehen - im Falle der Schizophrenie eben als schizophren Diagnostizierte und Therapierte und ihre Diagnostiker und Therapeuten im entsprechenden institutionellen Kontext. Denn dies erhöht die Wahrscheinlichkeit, daß bisheriges Handeln in neuer Perspektive reflektiert und ggf. verändert wird .
Größeres Gewicht als auf forschungs- und therapiepraktische Gesichtspunkte wurde auf den Versuch gelegt, Demarkations- und Differinzierungsprozesse des Selbst unter dem Blickwinkel der Theorie der Autopoiese zu beschreiben, um die theoretischen Prämissen für eben jenes Handeln zu klären.
Die "kognitive Karte" der Theorie der Autopoiese ist noch recht grob gezeichnet, umfaßt aber dafür ein weites phänomenales Feld. Sinn der vorliegenden Arbeit insgesamt war es, einen Kartenabschnitt - um im Bild zu bleiben - genauer zu zeichnen, eben jenen der Selbst-Demarkation und -Differenzierung im schizophrenen Prozeß. Die Anfertigung von Karten ist abhängig vom Standpunkt des Beobachters. Die Wahl des Bezugspunktes der Theorie der Autopoiese ist somit bestimmend für die Ausgestaltung der Karte; andere Bezugspunkte sind selbstverständlich denkbar, gerade wenn man die herangezogene Theorie ernst nimmt.
In der hier gewählten Perspektive erwiesen sich Demarkations- und Differenzierungsprozesse als untrennbar aufeinander bezogen; ihr Wechselspiel zeigte sich als wesentlich für die Ausgestaltung schizophrener Phänomene, wobei ein erweiterter Kongnitionsbegriff sich als sinnvoll erwiesen hat, um neurophysiologische und psychische Prozesse gemeinsam zu erfassen, ohne zu reduktionistischen Lösungen zu gelangen. Allerdings ist hierzu kritisch anzumerken, daß der weit gefaßte Kognititonsbegriff MATURANAs nicht nur Vorteile bietet. Um eine präzisere Analyse bestimmter Phänomene etwa der Schizophrenie leisten zu können, wird es sinnvoll sein, spezifischere Kognitionen heranzuziehen, weswegen von mir der Rekurs auf SULLIVAN und Prozesse der Aufmerksamkeitsfokussierung vorgenommen wurde. Um diesen Weg weiter zu verfolgen, wird es jedoch m.E. notwendig sein, aus dem allgemeinen Kognitionsbegriff, wie er von MATURANA gebraucht wird, spezifischere "Subprozesse" umfassender und stringenter abzuleiten, als es im Rahmen dieser Arbeit möglich war.
Bei dem Versuch, die "kognitive Karte" der Theorie der Autopoiese im Bereich schizophrener Phänomene genauer zu zeichnen, waren drei "Wegmarken" essentiell: die Beobachterperspektive, die operationale Geschlossenheit und die strukturelle Koppelung. Wenn in der Einleitung von mir die Hoffnung ausgesprochen wurde, dazu beizutragen, schizophrene Menschen als Subjekte in Forschung und Therapie "wiederzubeleben", dann kann ich jetzt resümieren, daß diesen drei Prinzipien, die für lebende Systeme gelten, dabei eine wichtige Funktion zukommt. Denn dort, wo wir um die Abhängigkeit von unserer Beobachterposition wissen, können wir der Variabilität lebender Systeme und ihrer Interaktion gewahr werden. Dort, wo ihre operationale Geschlossenheit wahrgenommen wird, kann die selbststeuernde Dynamik des Subjektes respektiert werden, ohne daß der Versuch unternommen wird, ein System total steuern zu wollen, wie es allenfalls bei Maschinen - also: toten Systemen - möglich ist. Und dort schließlich, wo wir um die Möglichkeiten und Grenzen struktureller Koppelung wissen, kann die Interaktion auch in hierarchischen Kontexten lebendige Kommunikation in dem Sinne werden, daß die autonomen Seiten des Subjekts, wie sie in Abgrenzung nach außen und Differenzierung im Inneren sich verdeutlichen, akzeptiert werden, ohne daß sie der Isolation verfallen.
Fußnoten:
53 Hierbei ist hervorzuheben, daß die Theorie der Autopoiese für die meisten Synergetiker nur eine mögliche theoretische Modellierung darstellt. So streicht etwa TSCHACHER (1990) die Unabhängigkeit von Systemtheorie und Konstruktivismus heraus.
54 SIMON (1988 b) analysiert zum Beispiel - unter Zugrundelegung der Prämisse autopoietischer Prozesse - mit Hilfe des chaostheoretischen Ansatzes schizophrene Sprachstörungen.
55 Es handelt sich dabei um so unterschiedliche Prozesse wie Börsenfluktuationen, städtebauliche Entwicklungen, Strömungsphänomene, Wolkenmuster, Raubtierverhalten u.a..
56 Die Sitzungen mit der 46 Jahre alten Patientin fanden statt im Dezember 1993 im PLK Wiesloch.
57 Integriertes Psychologisches Therapieprogramm nach BRENNER et al. (1988).
58 Hierbei ist zu beachten, daß milieu- und soziotherapeutische Maßnahmen gemeinhin als Spiegelbild der "tatsächlichen" Lebens- und Arbeitswirklichkeit dienen, um "Aktivitäten des täglichen Lebens" zu trainieren. Hierbei wird in der Regel vergessen, daß es sich auch nur um einen vom stationären verschiedenen Kontext innerhalb des gleichen - institutionellen - Metakontextes handelt.
59 Dies heißt nicht, daß damit möglicherweise auftretende, z.B. extrapyramidal-motorische Nebenwirkungen oder Spätfolgen wie etwa Dyskinesien bagatellisiert werden sollen.
60 BATESON et al. (1970) und GOFFMANN (1972) haben dies für den Bereich der familiären bzw. der institutionell-psychiatrischen Interaktion plastisch geschildert.
61 Auch humanistische Verfahren wie etwa die nicht-direktive Gesprächstherapie nach ROGERS, die sich einer anderen Anthropologie verpflichtet fühlen, geraten immer mehr unter Druck, ihre therapeutische Wirksamkeit unter Beweis zu stellen, indem sie operationalisierbare Wirkfaktoren benennen und in vergleichenden Therapieergebnisstudien ihre Wirksamkeit messen lassen (vgl. GRAWE et.al. 1994).
62 Vgl. hierzu die Arbeit von RICHTERICH (1994).
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