MATEO - Mannheimer Texte Online
Wurde in den vorangegangenen Kapiteln das Phänomen schizophrener Selbst-Demarkation im Rahmen psychopathologischer Konstruktbildung dargestellt sowie das epistemologische Konzept der Autopoiese erläutert, so sollen im folgenden beide Bereiche zusammengeführt und ihr Verhältnis zueinander geklärt werden. Zunächst werden dazu konstruktivistische Modelle der Psychologie (PIAGET) und Psychopathologie (CIOMPI) mit dem theoretischen Ansatz von MATURANA verglichen. Dabei werden theoretische Kernbereiche herausgegriffen, die für die Entwicklung eines Zugangs zu schizophrenen Phänomenen in konstruktivistischer Perspektive von besonderer Bedeutung sind. In einem weiteren Schritt wird untersucht, wie sich schizophrene "Symptome" innerhalb der Theorie der Autopoiese beschreiben lassen. Exkursorisch findet die interpersonale Theorie von SULLIVAN Berücksichtigung.
In diesem und in folgendem Kapitel zur Veranschaulichung verwendete Zitate schizophrener Patientinnen und Patienten entstammen, sofern nicht anders gekennzeichnet, eigenen Aufzeichnungen zu therapeutischen Prozessen.
Innerhalb der Psychologie lassen sich konstruktivistische Modelle vor allem im Bereich der Denk- und Sprachpsychologie (z.B. NEISSER 1974) nachweisen. Der sogenannte "Kognitive Konstruktivismus" spiegelt sich in der psychologischen Theoriebildung zunächst, quasi als "Vorläufer", in gestaltpsychologischen Theoremen wider. Ende der 60er Jahre beginnen sich kognitive Forschungsparadigmen zu etablieren, die sich von einer den Menschen als "tabula rasa" betrachtenden behavioristischen Psychologie abgrenzen. Die aktive Konstruktion der Welt wird besonders in den entwicklungspsychologischen Studien von PIAGET und seiner "Genfer Schule" hervorgehoben.
Hingegen hat eine explizite Rezeption konstruktivistischer Paradigmen in der deutschen Psychiatriegeschichte nicht stattgefunden (wobei Analoges für den angelsächsischen und mit Einschränkung für den z.T. strukturalistisch beeinflußten französischen Zweig der Psychiatrie gilt). Nichtsdestoweniger stellt sich die Frage implizit vorfindbarer konstruktivistischer Axiome bei jenem Teil der deutschen Psychiatrie, der sich zumindest partiell von einer sich rein naturwissenschaftlich orientierenden Medizin bewußt unterscheiden will und sich in die Tradition des deutschen Idealismus stellt - wenn wir denn die Herkunftslinie aus der Phänomenologie HUSSERL'scher und der Existenzphilosophie HEIDEGGER'scher Prägung so grob zeichnen und global zuordnen dürfen.
Sowohl die Strukturdynamik JANZARIKs (1988) als auch die Daseinsanalytik BINSWANGERs (BINSWANGER 1957, 1965) und heute BLANKENBURGs (BLANKENBURG 1971) sowie die interaktionale Psychopathologie GLATZELs haben einen gemeinsamen Kern der Subjektbezogenheit. Dieser wird insbesondere bei GLATZEL (1978, 1981) nur im kommunikativen Zusammenhang von Beobachter und Beobachtetem deutlich. Bei GLATZEL nämlich imponiert das schizophrene Syndrom - wie letztlich alle psychopathologischen Phänomene - erst durch einen kommunikativen Akt, der dadurch gekennzeichnet ist, daß der als schizophren Klassifizierte (aus Sicht des Beobachters) aus der kollektiv normierten "Verständnisgemeinschaft" aussteigt. Dieser Position inhärent ist die - im Kern konstruktivistische - Auffassung, daß es nicht eine voraussetzungslos allgemein zugängliche, objektive, sondern vielmehr eine konsensuelle Realität gibt; eine potentiell kollektive interpersonale Perspektivität (GRAUMANN 1979), deren empirische Basis der kleinste gemeinsame Nenner aller die Realität Erfahrenden ist, die ihre Wirklichkeit aufgrund gemeinsam gesetzter logischer Regeln konstruieren. Dieses kollektive Konstrukt erscheint den "Konstrukteuren" als selbstevident.
In der Tradition KANTs - und damit in jenem transzendentalphilosophischen Strang, der eine der Wurzeln des modernen Konstruktivismus bildet - wird über solche Setzungen hinausgehend freilich postuliert, daß es eine anthropologische Basis eines so gearteten kollektiven Erfahrungshorizontes der Selbstevidenz gibt. KANT bezeichnet diese in seiner "Kritik der Urteilskraft" als
Wie wir gesehen haben, erhebt nun aber gerade KANT die Uneinfühlbarkeit dessen, der sich gegen alle akzeptierten logischen Gesetze verhält, zum Kriterium für psychotisches Geschehen. Mit anderen Worten: der Beobachter solchen Geschehens postuliert die Unmöglichkeit der Perspektivenübernahme des Beobachteten. Die Kehrseite jenes Prozesses ist indes des öfteren - vor allem in Bezug auf das Wahngeschehen - von phänomenologischer Warte aus beschrieben worden. So ist, wie etwa BLANKENBURG (1991 b) ausführt, der "Wähnende" zum einen radikal perspektivisch, indem er nämlich, quasi als Überpointierung der konstruktivistisch vorausgesetzten Perspektiveabhängigkeit jeder Wirklichkeitskonstitution, nur seine eigene subjektive Sicht gelten läßt. Zum anderen ist es ihm eben durch diese Verabsolutierung unmöglich, Perspektivität als Meta-Realität des Erkennens zu fassen und somit einen Perspektivenaustausch zuzulassen - so daß seine Welt geradezu als "aperspektivisch" gekennzeichnet werden kann.
Eben jener psychiatrisch-phänomenologische Zugang zum Wahnphänomen kann als, wenngleich relativ isolierte, Bahnung konstruktivistischer Zugänge zur schizophrenen Symptomatik gewertet werden. CIOMPIs konstruktivistischer Strang allerdings speist sich aus einer ganz anderen Quelle: dem empirisch-psychologischen Kognitivismus.
Anfang der 20er Jahre bemängelt der wie MATURANA von der Biologie her kommende PIAGET den spekulativen Charakter jener psychologischen Annahmen, die philosophischen Erkenntnistheorien inhärent sind, da sie über kognitive Prozesse Aussagen treffen. Der Erkenntnisprozeß selbst sollte zum Gegenstand empirisch-psychologischer Forschung werden. Da alle psychologischen Bedingungen der Erkenntnis eine Entwicklung haben, favorisiert PIAGET einen entwicklungspsychologischen Zugang. Im Zentrum seiner Studien steht die Genese kognitiver Strukturen sowohl im ontogenetischen wie auch im historischen Sinn (PIAGET 1975, 1977). Den Forschungsgegenstand bilden dabei Perzeptionsprozesse, raumzeitliche Kategorien, Mengen- und Zahlenkonzepte, logische Verknüpfungen, Strategien der Induktion und der Deduktion, Konzepte von Kausalität usw.. Abhängig von der als flexibel erachteten kognitiven Struktur gestalten sich Erkenntnisprozesse in unterschiedlichen Altersstufen verschieden. Kognitive Struktur und Altersgruppe sind dabei korreliert, aber nicht rigide verknüpft. In PIAGETs Theorie ist das Subjekt aktiv, die Objekte der Erkenntnis bleiben hingegen eher passiv. Dies unterscheidet ihn sowohl von entwicklungspsychologischen Stadientheoretikern als auch von Lerntheoretikern, die einseitig den Umweltaspekt betonen und den Menschen eher als passiv-rezipierend auffassen.
Sofern wir das Verhalten eines Menschen unter dem Aspekt seiner Struktur betrachten, läßt sich die kognitive Entwicklung als die progressive Konstruktion von Operationssystemen auffassen. In diesen Operationssystemen sind Elemente des Denkens und des Verhaltens eng aufeinander bezogen, die in vorangegangenen Stufen der geistigen Entwicklung isoliert und an äußere Bedingungen gebundene Vorstellungsbilder oder sensomotorische Gewohnheiten vorkamen. Eine einmal konstruierte Operation ist die Bedingung für eine nachfolgende, die eine höhere Komplexität aufweist und eine größere Anzahl operativer Variationen zuläßt.
Eine kognitive Struktur geht nach PIAGETs Ansicht nicht verloren, sondern bleibt quasi in der nachfolgenden Stufe "aufgehoben". *32
PIAGETs Theorie ist zurecht, auch von dem philosophisch kenntnisreichen PIAGET selbst, als konstruktivistisch gekennzeichnet worden. Zweifelsohne jedoch ist sein Konstruktivismus von nicht so radikaler Art wie der von MATURANA und VARELA. Dies ist vor allem der Tatsache zweier Aporien geschuldet: Der mangelnden Reflexion möglicher abbildtheoretischer Implikationen von PIAGETs Repräsentationsbegriff sowie der zum Teil ungeklärten Rolle des Beobachters.
Eine der zentralen Prämissen von PIAGETs genetischer Epistemologie ist die Annahme von Gleichgewichtsprozessen, die gewissermaßen den Motor für die Fortentwicklung kognitiver Strukturen bilden. Anforderungen der Umwelt können in einem Widerspruch zu kognitiven Strukturen stehen. Dieses Ungleichgewicht resultiert in adaptativen Prozessen, bei denen entweder das äußere Ereignis an die kognitive Struktur assimiliert wird oder aber eine Akkomodation in dem Sinne stattfindet, daß die kognitive Struktur entsprechend den Anforderungen verändert wird. Die mit dem letzten Prozeß einhergehende größere Variabilität und Komplexität der kognitiven Struktur ist weitgehend konsistent mit MATURANAs Annahmen über kognitive Entwicklungen. Es ist aber nicht geklärt, inwieweit die kognitiven Repräsentationen, deren Relevanz PIAGET zum Beispiel bei der Entwicklung der Objektpermanenz oder des Nachahmungsverhaltens betont, vor allem nach ihrer Effektivität beurteilt werden, wie es MATURANA entsprechen würde; oder ob PIAGETs Theorie eine stetig verbesserte Abbildfunktion impliziert, die eine sich optimierende Anpassung an die Umwelt erlaubt.
Dies kann letztlich nur geklärt werden, indem die Rolle des Beobachters reflektiert wird. Die Tatsache der Adaptationsprozesse selbst kann nämlich auch im Rahmen eines Modells der Perturbationen erklärt werden. Es ist der Beobachter, der die Feststellung trifft, ob ein kognitiver Akt assimilativ oder akkomodativ ist. In allen Studien PIAGETs kommt dem Beobachter eine herausragende Bedeutung zu. Er übt eine Art teilnehmender Beobachtung in einem quasi-experimentellen Feld aus. Dies ist auch PIAGETs persönlicher Ausgangspunkt, da ihn u.a. Beobachtungen an seinen eigenen Kindern theoretisch herausgefordert haben. Im Mittelpunkt seines Interesses stehen dabei typische "Denkfehler", die er dann mit den kognitiven Strukturen bestimmter Altersgruppen in Zusammenhang bringt. Im Begriff des "Denkfehlers" liegt jedoch der Keim für jenes implizite Axiom des Repräsentationismus, von dem sich PIAGET auch im späteren theoretischen Werk nicht völlig lösen kann, da er es im Grunde nicht hinterfragt.
Die Konstitution des Bewußtseins und damit des Selbst ist nach CIOMPI eng verknüpft mit der Entwicklung sensori-motorisch-affektiver Schemata. Ihre Entwicklung ermöglicht eine Erkenntnis, die vom Speziellen zum Allgemeinen fortschreitet (CIOMPI 1989). Der ständige neue Auszug von Invarianz resultiert in Verdichtungsprozessen, die Schemata höherer Ordnung generieren. CIOMPI rekurriert hierbei nicht nur auf PIAGET, wie der Terminus des Schemas es nahelegt, sondern auch auf KERNBERG. Die Art, wie CIOMPI mit den Begriffen der Selbst- und Objektrepräsentanzen operiert, zeigt dies deutlich. KERNBERG (1979) definiert das Selbst als eine
Diese Definition wird von CIOMPI voll übernommen. Dabei unterstreicht er, daß "alles, was wirkt" das Selbst konstituiert. Diese Betonung der praktischen Effektivität oder auch der Handlungseffizienz erinnert an MATURANA und dessen Definition der Kognition. CIOMPI legt hierbei den Schwerpunkt auf die Internalisation von Beziehungen, die als "weiche Realität" beschrieben werden, die er in Anlehnung an STIERLIN (1981) von der "harten Realität" des materiellen Geschehens abgrenzt. In diesem Zusammenhang wird von CIOMPI besonders die Entwicklung der Objektkonstanz als zentral hervorgehoben.
Die Bewußtseinsentwicklung bzw. die Entwicklung des Selbst ist nach CIOMPI verknüpft mit ständigen Abstraktionsprozessen. Implizit und teilweise explizit wird dabei unterstellt, daß es sich hierbei um eine Höherentwicklung handelt, was im Gegensatz zur Theorie des Driftens von MATURANA und VARELA steht. Hier wird deutlich, daß sich CIOMPI nicht ganz von einem repräsentationistischen Paradigma lösen kann. Dies zeigt sich vor allem dann, wenn er vom Selbst als einem "zentralen Informationsverarbeitungsapparat" (CIOMPI 1989, p. 152) spricht. Bei MATURANA und VARELA (1987) wird das Selbst insgesamt stringenter definiert. Bedingung für seine Konstitution ist demnach die Intimität rekursiver individueller Interaktionen. Das Selbst wird dabei definiert als eine Unterscheidung in einem sprachlichen Bereich. Auch MATURANA und VARELEA postulieren eine Entwicklung in dem Sinne, daß eine ständige Zunahme der Fähigkeit existiert, Unterscheidungen im Bereich kooperativen Verhaltens zu treffen. Entwicklung wird dabei aber konsequent nicht als beständig verbesserte Abbildung der Umwelt verstanden. Selbstbewußtsein findet nach MATURANA und VARELA immer nur im sprachlichen und damit sozialen Bereich statt. Was hierbei von den eigenen Erfahrungen gesagt wird, die Lebenswirklichkeit eines Subjekts, reflektiert dabei immer "das, was wir leben, und nicht das, was aus dem Blickwinkel eines unabhängigen Beobachters geschieht." (MATURANA & VARELA 1987, p. 249). *33
Der Begriff des Schemas wird von CIOMPI in enger Anlehnung an PIAGET (s.o.) entfaltet. Im Unterschied zu diesem spricht er jedoch immer von affektiv-kognitiven Schemata, *34 da er davon ausgeht, daß keine scharfe Trennung zwischen Affekt und Intellekt aufrecht erhalten werden kann. *35
Schemata weisen nach CIOMPI eine binäre Struktur auf. Am Beginn ihrer Entwicklung stehen polare Unterscheidungen wie zwischen Lust und Unlust. Aus diesen grundlegenden Differenzen entwickeln sich Differenzierungen, die wiederum zu Strukturen führen. Diese Strukturen werden beschrieben als Systeme, die Produkte aus Varianz und Invarianz darstellen. Als solche Systeme werden die affektiv-kognitiven Schemata aufgefaßt, die Bezugssysteme darstellen, die aus den Begegnungen mit dem umgebenden Milieu entstammen und gleichzeitig den Umgang damit konditionieren. Sie weisen, in Anlehnung an PIAGET, eine Hierarchisierung auf. In seinem Buch "Außenwelt - Innenwelt" (CIOMPI 1988) führt er diesen Gedanken weiter und stellt die kognitive Strukturierung nach PIAGET als Ergebnis einer strukturellen Koppelung dar, wie sie in der Theorie MATURANAs entfaltet ist.
Der Begriff des Schemas fehlt bei MATURANA und VARELA. Demgegenüber wird immer wieder auf die Begriffe der Organisation und der Struktur abgehoben (vgl. 3.1). Die Organisation spiegelt sich dabei in der Relation zwischen Elementen, die eine Klasse bilden. Demgegenüber umfaßt die Struktur sowohl Elemente als auch Relationen in einer Weise, in der eine Einheit sich konstituiert bzw. eine Organisation sich konkret verwirklicht.
In seiner Theorie der Affektlogik setzt CIOMPI (1989) einen Gleichgewichtsbegriff, wie ihn PIAGET entwickelt hat, voraus. Dabei beschäftigt ihn allerdings die Frage, wie es zu einem "Sprung" auf eine "höhere" Verstehensebene kommen kann. Analog der Bedeutung dissipativer Strukturen für die Entwicklung anorganischer oder organischer Materie zu Stufen hörerer Komplexität (vgl. auch 4.4.1) hält er Wechselwirkungsprozesse und autokatalytische, Abweichung verstärkende Rückkoppelungsschleifen für eine wichtige prozessuale Größe bei selbstorganisatorischen Prozessen, wie sie auch bei der Schizophrenie eine Rolle spielen. Äquilibratorische Anpassungsprozesse werden dabei prinzipiell gleichgesetzt mit strukturellen Koppelungsprozessen, wie MATURANA und VARELA sie beschrieben haben.
MATURANA und VARELA (1987) fokussieren die Dialektik von Konstanthaltung und Organisation auf der einen Seite und Wandel der Struktur auf der anderen Seite. Strukturveränderungen werden ausgelöst und ausgewählt durch das umgebende Milieu, sowie umgekehrt Strukturveränderungen auch als Auswähler für das Milieu fungieren. Dabei entsteht Verhalten entsprechend den internen Relationen neuronaler Aktivität im Rahmen der Vernetzungsstruktur des Nervensystems. Anpassungsprozesse finden insofern statt, als eine strukturelle Verträglichkeit gesucht wird, die der Konstanthaltung der Organisation dient und damit der Auflösung des Organismus entgegenwirkt. Entwicklung im Sinne von Strukturwandel wird gleichfalls möglich, und zwar in dem Sinne, daß der Bereich möglicher Zustände stetig ausgeweitet wird (MATURANA & VARELA 1987, p. 139). Dabei bleiben bestimmte Relationen notwendig invariant. Insgesamt herrscht aber eine reiche Plastizität des Nervensystems vor, die die Grundlage für ein dynamisches Gleichgewicht bildet. Aus Beobachterperspektive ließen sich diese Prozesse als assimilativ oder akkomodativ beschreiben.
Für CIOMPI (1989) sind Frühformen der Perzeption und Kommunikation die Affekte. Sie bilden mit ihrer Grobstruktur von Lust und Unlust ein grundlegendes Raster relativer Invarianz aufgrund sensori-motorischer Polaritäten, deren physiologisches Substrat von älteren Hirnteilen, dem Hypothalamus und dem limbischen System, gebildet wird. Differenzierung von innen und außen bildet dabei den Ausgangspunkt der Entwicklung abstrakter Reversibilitäten, wie sie von PIAGET als Dezentration beschrieben wird. Analog erfolgt die Differenzierung internalisierter Subjekt- und Objektrepräsentanzen. Diese Terminologie entspricht noch ganz dem psychoanalytischen Paradigma, das CIOMPI (1988) insofern erweitert, als er mindestens zwei subjektive Repräsentanzbildungen in Anlehnung an SIMON (1984) unterscheidet: Die ganzheitlich-räumlich-synchrone auf der einen und die teilbezogen-zeitlich-diachrone auf der anderen Seite. Der Begriff der Repräsentanz scheint zunächst verwirrend, weil sich CIOMPI auf MATURANA bezieht und ein repräsentationistisches Weltbild ablehnt. Hierbei wird deutlich, daß der Gebrauch des Begriffs der Repräsentanz oder Repräsentation nicht automatisch ein abbildtheoretisches Modell impliziert. *36
In der Tat betont CIOMPI, daß der Bereich des Psychischen ein inneres Universum bildet, der allein der Selbstbeobachtung zugänglich ist. Die Selbstabgrenzung (in psychoanalytischer Terminologie: Selbstrepräsentation) resultiert dabei, ganz im Sinne PIAGETs, aus der Aktion, dem handelnden Subjekt. Dabei verweist CIOMPI auf die Relevanz struktureller Koppelungen und führt als Beispiele die Mutter-Kind-Interaktion sowie den Werkzeuggebrauch an (CIOMPI 1988, p. 183). Hier wird deutlich, daß CIOMPI den gewählten theoretischen Rahmen, das Modell der Autopoiese, nicht stringent durchhält. Dies zeigt sich, wenn er zunächst von der wechselseitigen Anpassung von "psychischem Apparat" und Umwelt spricht und dies sodann mit einer "wachsenden Wirklichkeitskonformität" in Verbindung bringt (CIOMPI 1988, p. 183 und 242).
Für MATURANA stellt Kommunikation keine übertragene Information dar, sondern eine Verhaltenskoordination, die aus sozialer Koppelung resultiert. Sprachliche Kommunikation ist dabei jenes kommunikative Verhalten, das von Beobachtern semantisch beschrieben wird - d.h. beschrieben wird in einer Form, als würden die vom Beobachter gewählten Bedeutungen die Interaktion bestimmen (MATURANA & VARELA 1987). Da das Nervensystem nicht mit Repräsentationen einer unabhängigen Welt arbeitet, sind dabei Wörter auch nicht Bezeichnungen von Situationen oder Objekten der Umwelt. Sprache wird prozessual verstanden und läßt sich demnach nicht in isolierte Verhaltensweisen auflösen. Erst hier wird Selbstbeschreibung möglich, nämlich als reflexive Handlung, die sprachliche Unterscheidungen trifft und so eine deskriptive Rekursion aufrechterhält, womit innerhalb der Kommunikation sprachliche operationale Kohärenz gewahrt wird.
Die Art, wie Lernprozesse verstanden werden, scheinen sowohl bei CIOMPI als auch bei MATURANA als Resultat ihrer Vorstellungen über Repräsentation und Kommunikation. Für CIOMPI (1988) gibt es einen dynamischen Austausch mit der Umwelt, der durch neuronale Plastizität bis ins höhere Alter aufrechterhalten wird. Besonderes Gewicht wird dabei auf Bahnungsprozesse gelegt. CIOMPI betont, daß biologischen Systemen sowohl Tendenzen zum Gleichgewicht, aber auch Zustände fern vom Gleichgewicht zu eigen seien. Entsprechend seien sowohl stabilisierende als auch dekompensatorische Prozesse möglich, wobei Affekt und Intellekt miteinander strukturell gekoppelt seien; dem Affekt sei eher das Moment der Beharrung eigen. Die angenommene Streßempfindlichkeit des Dopaminsystems bei Schizophrenen beispielsweise ist für ihn ein labilisierendes Element, das Ungleichgewichtsprozesse in Gang setzen kann, wie es dissipativen Strukturen eigen sei. Allgemeinpsychologisch sei die Fokussierung der Aufmerksamkeit bei Neuem (Neugiermotivation) bedeutsam für Lernvorgänge assimilativer oder akkomodativer Art.
Für MATURANA & VARELA (1987) ist Lernen eine Funktion der Beobachtung. Wenn ein Beobachter ein Verhalten auf eine Interaktionsgeschichte zurückführt, spricht er von erlerntem Verhalten. Verinnerlichung ist damit kein Faktor des Organismus, sondern eine Beschreibungsebene des Beobachters. Aus der Sicht des Organismus gibt es Strukturkoppelungen, die der Anpassung des Organismus, d.h. seinem Organisationserhalt, dienen und eventuell neue Dimensionen struktureller Koppelung erschließen. Erfahrungen bilden damit keine Engramme, sondern sind Resultat der Interaktionsauswirkungen. Organismus und umgebendes Milieu wirken dabei gegenseitig als Auslöser von Strukturveränderungen. Der Organismus selektiert Strukturveränderungen, die ein weiteres Operieren ermöglichen. Die Frage des optimalen Operierens ist dabei eine Frage des Beobachters. Von Lernvorgängen wird dann gesprochen, wenn sich das Verhalten eines Organismus kontingent zu seinen Interaktionen mit dem Medium verändert (MATURANA 1983).
Das Phänomen des Autismus als Kerygma des schizophrenen Bruchs zwischen Selbst und Welt ist vor allem, wie wir gesehen haben, von BLEULER beschrieben worden. Die schizophrene "Selbst-Verrückung" aus der Welt ist augenfällig aus einer Beobachterperspektive, die die Eigenweltlichkeit "des" Schizophrenen postuliert. Diese Eigenweltlichkeit resultiert aus Beobachtersicht aus einem aufgekündigten Kommunikationszusammenhang, d.h. aus einem rein privaten Realitätsbezug, der sich aus Wahngewißheiten speist. Sinnfälligster Ausdruck dieser Eigenbezüglichkeit ist die Unverrückbarkeit des eigenen Standpunktes. Daneben imponiert eine sprachlogische Inkohärenz (Kontaminationen, Neologismen, Sperrungen, Danebenreden usw.), wie sie in der Tradition von DOMARUS (1925) als formale Denkstörung beschrieben wird. Die von KANT und JASPERS zum diagnostischen Kriterium erhobene Uneinfühlbarkeit der Schizophrenie findet hier ihren kommunikativen Kern.
Wenn wir nun aber mit MATURANA, VARELA u.a. davon ausgehen, daß strikte Eigenbezüglichkeit das Proprium lebender Systeme darstellt, so müssen wir danach fragen, inwieweit mit diesem Konstrukt zum erklärenden Verstehen des schizophrenen Autismus beigetragen werden kann, ohne daß das Phänomen durch diese globalisierende Prämisse definitorisch eliminiert wird.
Um zu verstehen, wie der schizophrene Autismus sich in die Theorie der Autopoiese fügt, müssen wir uns vergegenwärtigen, wie sich soziale Realität vor der psychischen "Verrückung" darstellt. Soziale Koppelungen sind - wie gezeigt - rekursive Interaktionen, die zu wechselseitigen Zustandsveränderungen führen, ohne daß es zur Auflösung der Organisation eines Lebewesens kommt. Die Welt, in der diese Koppelungen sich realisieren, generieren wir aufgrund kollektiver Handlungen als unsere gemeinsame. Diese Handlungen werden sprachlich koordiniert; das gemeinsame Zeichensystem wird verwendet, "als ob" es sich um Informationen innerhalb eines repräsentationistischen Modells handele: die Wechselseitigkeit dieser "als ob"-Informationen garantiert trotz der Zustandsdeterminiertheit lebender Systeme einen konsensuellen Bereich, der Reliabilität gewährleistet - jene "zerreißbare Einheit, welche ein Subjekt mit seiner Umwelt in einer Einheit bildet", wie V. v. WEIZSÄCKER es formulierte (zit. n. BLANKENBURG 1991, p. 14).
Diese Reliabilität als wirksame und somit wirkliche Handlungsgrundlage verstärkt sich aber in dem Maße, in dem Intersubjektivität vorliegt: die Fähigkeit, die von uns antizipierte Wahrnehmung des anderen in unsere Wahrnehmung miteinzubeziehen. PIAGET (1975) hat diesen Prozeß der Perspektivenübernahme entwicklungspsychologisch als zunehmende Dezentrierung beschrieben, wobei die Identität des Wahrgenommenen im Sinne einer sich entwickelnden Objektkonstanz gewahrt bleibt. Rekursive Dezentrierung kann somit als Modus der strukturellen Koppelung beschrieben werden. Eine große Vorhersagbarkeit beschreibbarer Zustandsveränderungen des Beobachteten durch den Beobachter führt bei diesem zu internen Relationen, die die interpersonelle Koordination stabilisieren. Die Perspektivenflexibilität ist dabei nur eine relative, denn Wirklichkeit konstituiert sich nicht nur durch möglichen Perspektivenwechsel, sondern ebenso durch die identitätsstiftende Beschränkung, die jeder Wahrnehmungsfluktuation eigen ist. In diesem Sinne schreibt auch BLANKENBURG (1991, p. 17):
Nur so kann es zu einem Gleichgewicht zwischen Selbst-Identität und Objektkonstanz kommen. - Und in eben diesem Gleichgewicht der Übereinstimmung mit uns und dem uns umgebenden Milieu vermittelt sich uns das Gefühl der Selbstverständlichkeit in doppeltem Sinne der Vertrautheit mit unserer natürlichen Umgebung und mit uns selbst, die uns als selbstevident erscheint. Und exakt hier liegt die Sollbruchstelle bei der Konstitution des Phänomens des schizophrenen Autismus. *37
Die eindrücklichsten Schilderungen der beginnenden schizophrenen Verrückung finden sich immer noch in der (gestaltanalytischen) Studie von CONRAD (1979). Ihre Ankündigung ist das Trema: jene meist quälend depressiv-mißtrauische, teils rauschhafte Erwartungsspannung, deren Affekt einhergeht mit einer Veränderung des Bezugsrahmens, in dem das
Diese affektiv-kognitive Spannung löst sich in der apophänen Phase, in der interne und/oder externe Bezugspunkte sich in ihren Relationen verändern und eine neue subjektive Bedeutung erfahren, ohne daß ein Perspektivenwechsel zum Status quo ante - in der Terminologie CONRADs: ein "Überstieg" - möglich wäre. Die Apophänie kann sowohl den "Außen-" als auch den "Innenraum" betreffen, d.h. sie kann "ich-" oder "umweltkohärent" sein (GLATZEL 1981, p. 148).
CONRAD (1979, p. 47) beschreibt einen 21-jährigen Mann, der seine Außenwelt als verändert erlebt:
Beschreiben wir diesen Prozeß der Verrückung entsprechend der Theorie der Autopoiese, so kristallisieren sich drei Aspekte deutlich heraus:
Betrifft der o.a. Fall vor allem den "Außenraum", so kann umgekehrt auch eine "umweltkohärente" Form der Eigenbeziehung zum Tragen kommen. So berichtet CONRAD (1979, p. 85) von einem 32-jährigen Mann:
An diesem Beispiel wird zweierlei deutlich:
Auch GLATZEL (1981) argumentiert, es handele sich bei den beschriebenen Prozessen beginnender Schizophrenie nicht lediglich um Prozesse zunehmenden Mißtrauens oder verminderten Vertrauens - auch nicht beim paranoiden Typus -, sondern fundamentaler um die Aufhebung "der Kategorie Vertrautheit" (p. 150). Er bezieht sich dabei auf LUHMANN (1973). Nach diesem nämlich reduziert Vertrauen
Da aber
In dieser Diktion bedeutet Unvertrautheit, daß eintreffende Informationen nicht mehr der bestehenden kognitiven Struktur angeglichen werden können:
- Diese "passive Synthesis" ist unschwer in Verbindung zu bringen mit PIAGETs Begriff der Assimilation externer Reize an ein vorhandenes Schema (vgl. Kap. 4.3.1.3). CIOMPI (1988, 1989) spricht in diesem Zusammenhang, unter Bezugnahme auf PIAGET, von einem "Auszug an Invarianz", deren Validierung durch kontextgebundene "operationale Stimmigkeiten" (CIOMPI 1988, p. 177) gewährleistet ist.
Betrachten wir das Phänomen des schizophrenen Autismus aber in dieser Sichtweise, so geraten wir zunächst in einen offenbar logischen Widerspruch, wenn wir näher erörtern wollen, inwieweit das adaptative Gleichgewicht gestört ist. Denn zum einen scheinen die subjektiven Entfremdungsgefühle ja in Zusammenhang zu bringen zu sein mit einer mangelnden Assimilation, da neue oder auch schon bekannte Reize nicht mehr dem bestehenden kognitiven Schema angeglichen werden können. Zum anderen scheinen schizophrene Menschen geradezu ein Übergewicht an assimilativen Leistungen hervorzubringen, da ja, wie gesehen, gerade die Inflexibilität ihrer Perspektive das Bild dominiert. Ja, es werden offensichtlich Reize auf eine Weise assimiliert, die zum Konsensbruch entscheidend beiträgt und für die "Eigenweltlichkeit" konstitutiv ist.
Dieser Widerspruch löst sich, wenn wir eine zweiphasige Zustandsveränderung postulieren:
Es ist wichtig, die "logische Buchhaltung" (MATURANA & VARELA 1987, p. 148 f) einzuhalten und strikt zu unterscheiden zwischen der Geschichte der Zustandsveränderungen eines Systems einerseits und der Geschichte der Interaktionen des Systems mit seinem Milieu andererseits:
Letztlich lösen sich auch die Sichtweisen PIAGETs und CIOMPIs nicht gänzlich vom Informationsparadigma des Repräsentationismus. Die operationale Geschlossenheit lebender Systeme wird so zwar z.B. von CIOMPI (1988) postuliert, im gleichen Zuge aber wieder relativiert, wenn von der Psyche "als informationsverarbeitendes System mit einer bestimmten "Kanalkapazität"" gesprochen wird (ebd., p. 320).
Das Prinzip der operationalen Geschlossenheit ist verknüpft mit dem der "Nische" des Systems, die sowohl für den als schizophren Diagnostizierten als auch für den beobachtenden Psychopathologen totalen Charakter hat (vgl. 3.4.1). Wechselseitige Perturbationen zwischen Milieu-System erfordern Kompensationsleistungen des Systems, um die Lebensfähigkeit zu erhalten; Interaktionsvorhersagen werden benötigt, um systemische Zustände stabil zu halten. Wird ein solches Beschreibungssystem gewählt, so läßt sich nicht lediglich von einem "Überhandnehmen einer egozentrisch-autistischen Innenwelt gegenüber der äußeren Realität" (CIOMPI 1989, p. 311) sprechen, da hier stillschweigend eine objektive Realität als Prämisse vorausgesetzt und Autismus als bloße Entfernung davon angesehen wird.
Entscheidend ist aber, daß die Sicherheit, die LUHMANN u.a. beschreiben, nicht einfach in dem ökonomischen Invarianzauszug aus der äußeren Realität aufgeht. Die Sicherheit - also: die Vertrautheit eines Systems mit seinem Milieu - speist sich vielmehr aus der Vorhersage von Interaktionen, die seinen kognitiven Bereich ausmachen. Insofern fällt Vertrautheitsverlust zusammen mit mangelnder Vorhersagbarkeit des kognitiven Bereichs. Die Klasse von Interaktionen mag in der Folge eingeschränkt werden - wie es uns kataton-mutistische Bilder deutlich vor Augen führen-; eliminiert werden sie freilich nicht. Nicht lediglich, um die Vitalfunktionen des Systems durch Nahrungszufuhr aufrechtzuerhalten etc. (was etwa im Falle perniziöser Katatonie gleichfalls eingeschränkt werden kann); sondern vielmehr entsprechend dem Diktum von WATZLAWICK et al. (1980), daß es unmöglich sei, nicht zu kommunizieren - es sei denn, die Organisation des Systems löst sich auf. In jedem Falle ist der Modus der strukturellen Koppelung betroffen und kann vom Beobachterstandpunkt beschrieben werden, etwa, wie zuvor dargestellt, als Verkehrung der rekursiven Dezentrierung.
Eine andere Frage ist, unter Beachtung der "logischen Buchhaltung", die der internen Zustandsveränderungen, die mit veränderten Kompensationsmöglichkeiten bezüglich bestimmter Deformationen einhergehen. Im Beschreibungssystem der klassischen Psychopathologie ist damit die Frage nach den Denkstörungen berührt. Obwohl bereits JASPERS (1990) auf die Unterscheidung zwischen dem Verständnis des Gesprochenen und dem des Sprechers abhebt, ist die Gefahr der logischen Konfundierung von kommunikativem Sprechakt mit der Analyse einzelner Denkprozesse hier natürlich besonders gegeben. E. BLEULER (1983) beschreibt den Übergang vom Alltagsdenken ins "autistisch-undisziplinierte oder dereierende" (i.e. "vernunftwidrige") Denken mit Hilfe eines Zitates aus J. GOTTHELFs "Silvestertraum":
BLEULER setzt die autistische Denkform in Beziehung zur Wunscherfüllung:
Dieses "dereierende" Denken innerhalb eines veränderten affektiv-kognitiven Bezugssystems wird von ARIETI (1974), eben in Anknüpfung an BLEULER, als palaeologisches Denken beschrieben:
STROBL (1990) hat versucht, die beschriebenen Denkprozesse neurophysiologisch als "ontogenetische Regression" zu fassen:
Obwohl die dargestellten Überlegungen zur Frage der sogenannten Denkstörungen wesentlich dem repräsentationistischen Prinzip verhaftet bleiben, verweisen sie doch auf die Relevanz abweichender Logiken der Wirklichkeitskonstruktion. Lebende Systeme, die ein Nervensystem besitzen und sprachmächtig sind, haben die Fähigkeit, infinite Selbstbeschreibungen von sich anzufertigen. Hierbei wird, wenn unter der Bedingung operationaler Geschlossenheit ein Gleichgewicht aufrecht erhalten wird, ein logischer Formalismus realisiert, der einen Eigenwert generiert:
Für die weitere Analyse erscheint es sinnvoll, folgende Unterscheidungen vorzunehmen:
- ein tautologisch die Wirklichkeit errechnendes und
- ein volitiv-enaktives, das Impulse in Aktion umsetzt. Beide Systeme sind in der Regel eng miteinander verzahnt und werden als Komplement wahrgenommen. Unterschiede sind Unterschiede der Beschreibung (vgl. 3.4.1). - Über das Prinzip tautologischer Errechnung hinaus herrscht eine Konkurrenz zwei- und mehrwertiger Logiken, je nachdem, ob etwa "taggeträumt" wird oder in einer Gruppe kommuniziert. Es existiert ein Ordnungsprinzip, das die logische Gültigkeit bereichsweise festlegt, etwa die aristotelische im kommunikativen Bereich. *39
Bei schizophrenen Phänomenen deutet vieles (klinisch: Handlungsimpulse, Gedankeneingebung u.a.) auf einen Bruch zwischen den beiden kognitiven Systemen. Die schizophrene Selbstentfremdung scheint hier ihren Kern zu haben *40 und einherzugehen mit einer Erosion des Ordnungsprinzips, das flexibel, aber übergeordnet und selbstbezogen die Bereiche logischer Gültigkeit festlegt. Analog der zweiphasigen Zustandsveränderung der Balancierung können wir davon ausgehen, daß in der Regel die Tendenz besteht, ein neues Ordnungsprinzip zu etablieren, um kommunikative Effektivität zu gewährleisten:
- In gewisser Weise eine Hommage an die "logische Buchhaltung" und ihre Trennung interner Zustände und kommunikativer Akte.
Wie verhält sich das bisher Gesagte zur klassischen Wahndefinition? Wenn wir von "autistischer Eigenbeziehung" oder Ähnlichem sprechen, setzen wir ja das Vorhandensein einer "Wahnwelt" logisch voraus, in die der Schizophrene "eingesponnen" sei.
JASPERS (1973) nennt drei Kriterien, um Wahn zu charakterisieren:
Obwohl diese Kriterien aus formalen und inhaltlichen Gesichtspunkten immer wieder kritisiert wurden, hat es bis einschließlich der Diskussion der nosologischen Systeme ICD-10 und DSM-IV keine verbindliche Alternative gegeben. Im Brennpunkt der Kritik steht dabei seit jeher, aber besonders seit der zunehmenden Bedeutung der transkulturellen Psychiatrie (z.B. WULFF 1978), das dritte Wahnkriterium *41.
In konstruktivistischer Perspektive zeigt sich, obwohl nach wie vor praktisch-klinisch relevant, die Unzulänglichkeit des dritten Wahnkriteriums. Da es sich bei dem, was wir Realität nennen, jeweils um ein Konstrukt der betreffenden Person handelt, käme die Hinzuziehung des dritten Kriteriums dem Versuch gleich, den verabsolutierten Beobachterstandpunkt des Diagnostikers als archimedischen Punkt außerhalb der Welt zu etablieren.
Nichtsdestotrotz ergibt sich auch, wenn wir die Prämissen der Theorie der Autopoiese voraussetzen, eine Möglichkeit, Wahn zu definieren. Hierzu müssen wir eine wichtige Unterscheidung treffen, die sich auf dem unterschiedlichen Gebrauch der Begriffe der Selbst- und Fremdreferenz bezieht. Zum einen ist das aus kognitiv-affektiven Komponenten bestehende psychische System selbstreferent im Sinne operationaler Geschlossenheit als Ganzes, wie es die Theorie von MATURANA impliziert. Zum zweiten aber rekurrieren die Komponenten des Systems entweder selbstreferent auf ihren eigenen Prozeß oder aber fremdreferent auf äußere Objekte dieses Prozesses (vgl. auch LUHMANN 1989). Erst die Etablierung dieser fundamentalen Differenz bringt das psychische System zur Reflexion seiner Identität - zu Selbst-Bewußtsein. Auf der Grundlage dieser Leitdifferenz von Selbst und Nicht-Selbst entwickelt das psychische System weitere Unterscheidungen mit Hilfe von Negationen. Die Herausbildung kognitiv-affektiver Schemata oder Bezugssysteme und ihre interne Korrelation und Koordination erlaubt Sicherheit im System-Umwelt-Bezug: Wenn ich aus dem Raum gehe und wieder zurückkehre, kann ich den Stuhl, den ich sehe und berühre, nicht nur mit der Kategorie "Stuhl" in Verbindung bringen, die ich herausgebildet habe; sondern ihn auch als identisch und real erleben. Die Bestätigung meiner Wahrnehmung dient dabei gleichzeitig der Vergewisserung meinerselbst (Selbstevidenz).
Fremdreferente Aussagen können einen hohen Grad an Unkorrigierbarkeit und subjektiver Gewißheit aufweisen, der aber immer nur ein relativer ist. Sie stellen immer eine Verbindung aus subjektivem Konstrukt und intersubjektivem Konsens dar. Es besteht somit prinzipiell die Möglichkeit, daß ich mich überzeugen lasse, daß ein Objekt meiner Wahrnehmung einer anderen Kategorie als der von mir gemeinten zugehört (illusionäre Verkennung). Auch kann ich mich davon überzeugen lassen, daß das Objekt nicht mit dem von mir gemeinten identisch ist (Verwechslung). Oder ich stelle fest, daß das wahrgenommene Objekt überhaupt nicht existiert (Halluzination).
Grundsätzlich anders verhält es sich mit Aussagen über Innenaspekte der eigenen Person. *42 Diese Form der Selbstbeschreibung ist prinzipiell subjektiv gewiß und unkorrigierbar. Es ist jener erkenntnistheoretische Halt, der als Basiskategorie den radikalsten cartesianischen Zweifel überstanden hat. Die selbstreferente Feststellung einer Person, daß diese Angst habe oder über etwas nachdenke, ist von einem Beobachter weder sinnvoll bezweifelbar noch notwendig Gegenstand eines intersubjektiven Konsenses. *43
Die operationale Geschlossenheit lebender Systeme bedingt auch unter der Annahme struktureller Koppelungen ein prinzipielles gegenseitiges Unverständnis. Ich kann mit einer anderen Person einen Konsens darüber erzielen, was die Farbe "blau" ist. Die entsprechenden Empfindungsqualitäten aber sind dem anderen keinesfalls zugänglich. Sie werden nur aufgrund von Korrelationen als den ihrigen ähnlich klassifiziert. Beschreibe ich einen Innenaspekt meines Selbst, etwa Angst, so kann ein Beobachter aufgrund äußerer Kriterien (z.B. Zittern) zu einer Wahrscheinlichkeitsaussage darüber kommen, ob ich lüge oder nicht, und meine Selbstbeschreibungen mit eigenen Erfahrungen vergleichen. Akzeptiert er die Prämisse, daß ich nicht lüge, so kann über meine Selbstbeschreibung nicht sinnvoll gestritten werden. *44
Die Klasse selbstreferenter Aussagen erfüllt die ersten beiden JASPER'schen Wahnkriterien, ohne daß jemand von Wahn sprechen würde. Umgekehrt sind Wahnformen vorstellbar, auf die lediglich die ersten beiden Kriterien zutreffen würden: So ist es klinisch unbestritten, daß die Diagnose eines Eifersuchtswahns auch gestellt werden kann, wenn tatsächlich der Partner des Wahnkranken untreu ist.
Wir können also festhalten: von Wahn sprechen wir, wenn eine Person fremdreferente Aussagen in einer Weise trifft, als ob es sich um selbstreferente handele.
Da Affekte wichtige Formen der Selbstbeschreibung sind, macht diese epistemologische Charakterisierung des Wahns auf der inhaltlichen Ebene gleichzeitig deutlich, weshalb die Stimulation wahnhafter Themen in der Regel affektgenerierend ist.
In der klassischen Psychopathologie werden Wahn (inhaltliche Denkstörungen) und Ich-Störungen (Störungen der Meinhaftigkeit) deskriptiv getrennt, wenngleich immer wieder konzediert worden ist, daß Wahnideen Überbaucharakter haben, die eventuell subjektiv nähere Grundstörungen erklären. Im folgenden soll ein prozessualer Kreislauf vorgestellt werden, der Störungen der Selbst-Demarkation und Wahnphänomene funktional integriert.
Zunächst ist es wichtig festzustellen, daß Binnendifferenzierung des Selbst und Selbst-Demarkation eng zusammengehören. Phänomene der Binnendifferenzierung wären vor allem solche der Spaltung. Beispielhaft hierfür steht folgende Aussage:
Als Phänomene einer - aus Beobachterperspektive - gestörten Selbst-Demarkation gehören Gedankeneingebungen, Gedankenentzug, Gedankenausbreitung sowie Beeinflussungserlebnisse. Die mögliche Vorstufe der Willensbeeinflussung exemplifiziert den Zusammenhang zwischen Binnendifferenzierung und Selbst-Demarkation. So herrscht beim Automatose-Syndrom das Erleben vor, daß bestimmte Handlungen nicht zum Körper gehören, sondern ohne eigenes Zutun ablaufen, und zwar ohne, daß das Gefühl des Von-außen-Gesteuerten auftritt. Hier zeigt sich, daß sowohl Veränderungen der Regulation der Binnendifferenzierung als auch solche der Selbst-Demarkation zwei Seiten einer Medaille sind. In beiden Fällen verändert sich das System der Selbstbeschreibung derart, daß bisher als zum Selbst gehörige Handlungen und/oder Körperteile als fremd bzw. nicht mehr zum System gehörend wahrgenommen und beschrieben werden. *45
Die Unterschiede zwischen veränderter Binnendifferenzierung und veränderter Selbst-Demarkation sind somit gradueller Natur. Veränderte Binnendifferenzierung birgt das Potential einer veränderten Selbst-Demarkation in sich, so wie eine veränderte Selbst-Demarkation immer eine veränderte Binnendifferenzierung bedeutet.
Was im organmedizinischen Modell als Prozeßhaftigkeit imponiert, als ob es sich um eine triviale Maschine handele, läßt sich adäquater als logische Schleife beschreiben. Die zirkuläre Binnenlogik des Systems ist es, die beim Beobachter den Eindruck unkorrigierbarer Abläufe hinterläßt.
In Abbildung 2 ist festgehalten, wie bestimmte basale Erlebnisse, für die zunächst keine selbstreferenten kognitiven Repräsentanzen bestehen und die deshalb auch nicht kommunikabel sind, eine "wahnhafte", für den Betreffenden evidente Erklärung finden. Eine veränderte Binnendifferenzierung geht hier in der Regel sukzessive mit einer Änderung der Selbst-Demarkation einher (z.B. Beeinflussungsideen), deren zugehörige Kognitionen in einem weiteren Schritt den Charakter selbstreferenter - und somit "unkorrigierbar gewisser" - Aussagen annehmen. Dieser Prozeß soll im folgenden Kapitel über Subjekt-Objekt-Trennung genauer untersucht werden.
Abb. 2
Wenn wir von einem basalen Erlebniskreislauf und einem Erklärungskreislauf sprechen, so setzt dies logisch einen Unterscheidungsprozeß voraus, der Selbst- und Fremdreferenz differenziert. Es ist dies nichts anderes als die Dialektik zwischen innen und außen, die die Grundlage der Konstitution des Selbst bildet. Die innere Dynamik des Systems und die Systemgrenze bilden dabei zwei Seiten desselben Phänomens: Das dynamische Netzwerk von Transformationen, die sich selbst erzeugen, ermöglicht seine eigene Begrenzung. Die Begrenzung wiederum definiert den "Rand" der Möglichkeiten des Operierens. Auf der Ebene der Kognitionen heißt das, daß die Möglichkeit, sich selbst zu beschreiben, von zwei Dingen abhängt:
Ausgangspunkt ist dabei die sich differenzierende Totalität des Subjekts, denn alles Bewußtsein von etwas ist zunächst Selbstbeschreibung. Ausdifferenzierung und Abgrenzung des Selbst ereignen sich als einheitlicher Prozeß unter den Bedingungen einer strukturellen Koppelung und definieren einen sprachlichen Bereich.
Im folgenden wollen wir von Individualisierung sprechen, wenn wir den Prozeß der Herausbildung des Selbst meinen. Von Externalisierung sprechen wir dann, wenn von der Konstitution einer äußeren Realität die Rede ist. Beide Prozesse sind funktional nicht voneinander zu trennen und nur aus Beobachterperspektive unterscheidbar. Ihr Fundament ist der Erkenntnisakt. Das Erkenntnisobjekt spiegelt dabei die Ontogenese des Erkennenden wider, der aktiv wahrnimmt, nicht passiv rezipiert. Die Erfahrungswelt konstituiert sich dabei in hierarchisch geordneten Rückkoppelungsschleifen, die drei Funktionen erfüllen müssen:
Die autopoietische Regelung der Homöostase bestimmt letztlich den Erkenntnisakt.
In der Regel ist der Erkenntnisakt Teil einer strukturellen Koppelung - aber eben im Sinne einer effizienten Operation, nicht einer optimalen "Anpassung" im Sinne einer darwinistischen Evolutionstheorie. Wir können dies beispielhaft erläutern am Bereich der Halluzinationen, obwohl diese klassischerweise gerade nicht zu den Ichstörungen gerechnet werden. Ähnlich wie ein Wahn, sind halluzinatorische Aussagen selbstreferent, aber fremdreferent etikettiert. Ihre Evidenz ist die eines normalen Sinneseindrucks. Was "reale" und "halluzinatorische" Wahrnehmung unterscheidet, ist die Beobachterperspektive, aufgrund derer Konsens oder Dissens hinsichtlich einer Wahrnehmung hergestellt wird. Aus sich selbst heraus verfügt ein Subjekt im Rahmen seiner Wahrnehmungsentwicklung über kein Kriterium für eine Trennung von realistischer und halluzinatorischer Wahrnehmung: Diese Unterscheidung erfolgt unter dem Aspekt der strukturellen Koppelung und der kognitiven Effizienz, dabei aber immer unter der Prämisse operationaler Geschlossenheit. Denn jeder Erkenntnisprozeß ist effizient, der der Erhaltung des Systems dient. Insofern gibt es keine bessere oder schlechtere Wahrnehmung der Umwelt. Die binäre Codierung von innen und außen aber ist fundamental für den Erhalt der Organisation des Systems und Grundlage weiterer Operationsmodi. Unter der Bedingung einer strukturellen Koppelung wird ein Konsens erzielt über eine Milieu-Subjekt-Abgrenzung, da diese das operative Feld von Interaktionen im Rahmen struktureller Koppelungen definiert.
Für diese strukturelle Koppelung ist es bedeutsam, daß ein Konsens erzielt wird über ein Objekt, das außerhalb zweier Interaktionspartner, aber innerhalb des gemeinsamen Milieus liegt. Subjektive Nuancen hingegen sind für die Interaktion zunächst irrelevant. Biete ich meinem Gegenüber beispielsweise einen Stuhl an, muß eine gewisse Sicherheit herrschen, daß beide das Objekt als ihnen äußerlich wahrnehmen. Beide Interaktionspartner werden sich z.B. auf die Farbe des Stuhls einigen können. Ob aber ein bestimmtes Farbspektrum von beiden subjektiv als völlig gleich empfunden wird, ist weder klärbar noch für die Interaktion relevant. *47
An dieser Stelle scheint es sinnvoll, den Begriff der Konstrukthierarchie einzuführen. Hierarchie soll hier eine logische Vorrangigkeit bedeuten. Ein Konstrukt ist dann hierarchisch höherstehend, wenn es die logische Voraussetzung für ein anderes Konstrukt bildet. Dies entspricht dem tradierten logischen Grundsatz, daß eine Definition aus einem Gattungsbegriff (Genus proximus) und einer spezifischen Form (Differentiam specificam) besteht. Die Individualisierung fußt insofern auf einem binären kategorialen System, als die Unterscheidung von innen und außen bzw. Selbst und Nicht-Selbst zur Grundlage aller weiteren Konstrukt-Differenzierung wird. Sie bildet die Grundlage für eine strukturelle Koppelung. Umgekehrt ist die strukturelle Koppelung fundamental für die Ausgestaltung der Kategorien Ich und Nicht-Ich. Diese Konstruktebene ist eng mit dem Konstrukt der Kausalität verknüpft. "Jedes Tun ist Erkennen, und jedes Erkennen ist Tun." (MATURANA und VARELA, 1987, p. 32). Wenn Erkenntnis wirksame Handlung ist, muß sie notwendig mit einem Kausalitätskonzept verbunden sein, das Ursachen und Wirkungen lokalisiert. Dieses Konzept realisiert sich unabhängig von der Tatsache, daß wir in systemischer Perspektive zirkuläre Erklärungen linearen vorziehen.
Folgende Attributionsmodi sind denkbar:
Perturbationen | ||
"Ursache" | "Wirkung" | Beispiel |
extern | -> extern | beobachtete Handlung (Sprengen des Rasens) |
extern | -> intern | erlebte Handlung (Ich werde naß) |
intern | -> extern | ausgeführte Handlung (Ich trete beiseite) |
intern | -> intern | Egozentrik (Ich zähle bis 10 und beruhige mich) |
Abb. 3
Alle in Abbildung 3 angeführten kausalen Attributionsmodi sind auch im psychotischen Erleben wirksam. Allerdings kommt es hierbei zu bedeutsamen "Verrückungen". Den ersten Fall, bei dem einer externen Ursache eine externe Wirkung zugeschrieben wird, können wir als Objektivierung bezeichnen. Ein beobachtetes Ereignis oder eine beobachtete Handlung hat Konsequenzen für den externen Raum des Beobachters, bleibt für ihn selbst aber, vom bloßen Sinneseindruck abgesehen, subjektiv folgenlos. Ein großer Teil der von CONRAD beschriebenen frühpsychotischen Symptome sind Modifikationen dieser Kategorie. Es sind dies in der Regel Verschiebungen in Richtung auf die zweite Kategorie, die wir passive Subjektivierung nennen wollen. In dieser Kategorie haben äußere Ursachen eine direkte Folge für den Beobachter.
Diese Verschiebung - hier von der ersten in die zweite Kategorie - können wir als Modifikation bezeichnen. Aus einer Wahnstimmung heraus hat diese Modifikation in der Regel zunächst einen antizipatorischen Charakter. Ein Beispiel wäre, daß sich zwei Männer in der Nähe eines Beobachters unterhalten. Aktionen und Reaktionen der beiden Männer könnten beobachtet und aufeinander bezogen werden. Ist der Beobachter in einer Wahnstimmung, so können zum Beispiel bestimmte Gesten als auf den Beobachter bezogen und bedrohlich empfunden werden, das Gespräch kann als Tuscheln über den Beobachter interpretiert werden (abnormes Bedeutungserleben und Ichbezogenheit). Dies wäre eine antizipatorische Modifikation, da beim Beobachter ein kognitiv-affektives Schema aktiviert wird, das für den Beobachter mögliche Gefahren und damit die Kategorie einer passiven Subjektivierung vorwegnimmt. Diese fortgeschrittene Form der Wahnwahrnehmung hat die ursprüngliche Vagheit der Wahnstimmung bereits verlassen.
Eine weitere Stufe der Modifikation wäre erreicht, wenn der Beobachter sich durch das Gespräch der Männer zum Beispiel gesteuert fühlt (Beeinflussungserleben). In diesem Falle wäre eine vollständige kategoriale Verschiebung erreicht. Die Kategorie der passiven Subjektivierung ist auch jener Bereich, der einem Großteil schizophrenietypischer Wahninhalte wie etwa dem Beeinträchtigungswahn oder dem Verfolgungswahn Raum gibt.
Spiegelbildlich dazu stellt sich die Kategorie der aktiven Subjektivierung dar, in der wir unser Verhalten als umweltwirksam beschreiben. Wahnideen und systematisierte Wahnformen treten hier in der Regel als innerkategoriale Akzentverschiebungen auf. So wird etwa mit dem Schreiben eines Briefes der Gedanke verknüpft, daß dies eine Änderung der Weltpolitik nach sich ziehen würde. Passive und aktive Subjektivierung sind häufig aufeinander bezogen; so sind etwa Größen- und Verfolgungswahn oft aneinander gekoppelt.
Die vierte Kategorie schließlich, die als Subjektzentrierung bezeichnet werden soll, ist in dem Sinne egozentrisch, als ein Individuum Selbstbeschreibungen leistet, bei der interne Wirkungen auf interne Ursachen zurückgeführt werden. Hierzu gehören die Korrelation physiologischer Vorgänge, das Wissen um die Bezogenheit von Kognition und Affekt sowie die Ausbildung eines Körperschemas. Diese Kategorie bildet den Bereich der Binnendifferenzierung und ist, wie wir gesehen haben, dialektisch mit der Definition einer Außengrenze verbunden. Modifikationen dieser selbstreferenten Vorgänge bilden das Feld der Ich-Störungen in unserem Sinne. Dazu gehören zum Beispiel fundamentale Erlebnisse wie die Erfahrung des Gespaltenseins in zwei Leib- oder Kopfhälften. Die Beziehung zu anderen Kategorien scheint hier evident. Ein Beispiel kann sein, daß die Kognition besteht, ein Teil des Körpers werde fremdgelenkt (passive Subjektivierung).
An all diesen Beispielen wird deutlich, wie eng die Konstruktion von Attributionsschemata mit der Konstituierung des Selbst verknüpft ist. Die Stabilität kausal-attributiver Schemata korreliert deshalb mit der Stabilität im Selbstkonzept, so wie umgekehrt eine Umstrukturierung solcher Schemata mit einer Umstrukturierung des Selbstkonzepts verbunden ist. Kausal-attributive Schemata stellen deshalb auch keine affektiv neutrale, quasi varianzanalytische Relationsmatrix dar, sondern es handelt sich hierbei obligat um affektiv-kognitive Bezugssysteme. *48
Als psychopathologisches Phänomen kommt Derealisation bei schizophrenen Psychosen relativ häufig vor, ohne dafür spezifisch zu sein. Oft zusammen mit Depersonalisationsphänomenen auftretend, wird sie z.B. auch im Kontext von Persönlichkeitsstörungen beschrieben. Derealisation als Begriff setzt logisch eine Definition von Realität voraus. Im Unterschied zum Wahn teilen hier aber die betreffende Person und der Beobachter in wichtigen Bereichen ihre Realitätsdefinition. Die derealisierende Person empfindet selbst ihr "Entrücken" aus der Realität als bedrohlich. Folgende Aussage einer Patientin verdeutlicht dies: "Ich habe Angst, alles kommt mir weit entfernt vor, es läuft alles wie ein Film ab" (Frau C.).
Der konsensuelle Bereich zwischen Beobachter und derealisierender Person kann therapeutisch genutzt werden, indem diese gemeinsame Basis verstärkt wird. Dies kann z.B. durch die gemeinsame Benennung des Zustandes geschehen. In dem erwähnten Beispiel etwa nannte die Patientin ihren Zustand ihr "weit-weg-Gefühl". Dieser Begriff diente im weiteren therapeutischen Prozeß dazu, innerhalb eines konsensuellen Bereiches über diesen Zustand und seine Funktionalität zu reflektieren. Im Zustand akuter Derealisation kann die Erfahrung von durch den Therapeuten herbeigeführten sensorischen Erfahrungen dazu dienen, diese Basis zu stärken. So kann z.B. das gemeinsame Herumgehen im Raum und die Aufforderung, die Sinneseindrücke, z.B. beim Abtasten von Möbeln und Wänden, dazu dienen, nicht nur den konsensuellen Bereich zwischen Therapeut und Patient zu festigen bzw. auszuweiten, sondern auch Unterschiede zwischen dem Selbst und dem umgebenden Milieu wieder zu verdeutlichen. Eine solche Intervention stellt eine Perturbation im Zustand der Veränderung der Demarkationslinie des Selbst dar, die zu einer Rückkoppelung mit dem umgebenden Milieu führen kann und als Konsequenz möglicherweise eine Eskalation der Entgrenzung verhindern hilft.
Das Wechselspiel zwischen Derealisation und Realitätskontrolle umgreift auch die zeitliche Ebene. So beschreibt ein weiterer Patient (Herr F.) sein verändertes subjektives Erleben mit den Worten: "Ich habe das Gefühl, auf einer Zeitreise zu sein. Meine innere Uhr läuft schneller." - Die erlebte Diskrepanz zwischen innerem Erleben und äußerer Realität, wie sie an der Metapher der Uhr deutlich wird, ist ein Spiegel des konsensuellen Bereiches, den der Patient mit dem Beobachter gemein hat. Sowohl die Etablierung als auch die Brechungen eines solchen Konsenses können verdeutlicht werden, wenn man darangeht, einen Dialog zu dekonstruieren. Die folgenden Gesprächsbeispiele sind eigenen Aufzeichnungen aus verschiedenen Sitzungen entnommen, die im Rahmen des bereits erwähnten Integrierten Psychologischen Therapieprogramms von BRENNER et al. (1988) stattfanden.
Im nachfolgenden ersten Beispiel *49 ist eine Aufgabe vorgegeben, in der jeweils ein Patient bzw. eine Patientin ein Kärtchen mit zwei Begriffen erhält, von denen eins unterstrichen ist. Für dieses unterstrichene Wort soll er oder sie ein treffendes Hinweiswort geben, damit es den anderen Gruppenmitgliedern ermöglicht wird, dieses zu erraten.
Transkript 1:
Frau F. (liest): "Glas-Teller". - Mein Hinweiswort ist "Weisheit". Frau B.: Teller. Frau F.: Stimmt Therapeut: Wie sind Sie darauf gekommen, Frau B.? Frau B.: Nun, über die Weißheit des Porzellans, ein Glas ist durchsichtig. Therapeut: Und wie sind Sie zu ihrem Hinweis gekommen, Frau F.? Ich glaube nämlich,
der Rest der Gruppe hat ihn nicht verstanden.Frau F.: Na ja, Weisheit heißt ja schließlich, daß man über den Tellerrand herausgucken kann.
In der ersten Sequenz dieses Gespräches hat sich ein Konsens etabliert, der nicht aufgelöst worden wäre, wenn der Therapeut nicht interveniert hätte. Ein in psychopathologischen Kategorien denkender Beobachter würde vermutlich feststellen, daß die Prämissen von Frau F. und Frau B. nicht nur völlig unterschiedlich sind, sondern auch unterschiedlichen formalen Denkstörungen entspringen, die auch noch gegenläufig sind. So läßt sich die Aussage von Frau F. als symbolisierende Hyperamplifikation beschreiben, wohingegen die Aussage von Frau B. konkretistisch ist. Diese individualisierende Beobachtungsweise verdeckt aber einen entscheidenden Aspekt: Nämlich die Tatsache, daß es den beiden Patientinnen trotz dieser gegenläufigen formalen Denkstörungen gelingt, einen konsensuellen Bereich zu etablieren, der erst durchbrochen wird, wenn der Therapeut beginnt, den Dialog zu dekonstruieren. Da auf diese Weise in den Dialog Unterschiede eingeführt werden, ist damit ein Neuverhandeln der Realität und der Demarkationslinie des Selbst verbunden.
Nicht immer ist eine solche therapeutische "Verstörung" vonnöten, um einen konsensuellen Bereich aufzulockern. *50
An folgendem Beispiel wird das deutlich:
Transkript 2:
Herr Z. (liest): "Hut-Mütze". - Mein Hinweiswort ist "Schild". Frau G.: Mütze. Mützen haben ein Schild. Herr Z.: Nein, es ist doch klar: Auf vielen Verkehrsschildern sind Männer mit Hüten abgebildet.
Auch an diesem Beispiel könnte ein Beobachter, der psychopathologisch geschult wäre, die Äußerung von Herrn Z. als formale Denkstörung in Form einer assoziativen Auflockerung beschreiben. Da für Frau G. die Assoziation von Herrn Z. jedoch so weit entfernt von ihrer Realität ist wie von der eines hypothetischen Beobachters, dekonstruiert sich dieser Dialog quasi von selbst.
Ein letztes Beispiel mag verdeutlichen, daß ein auf aus Beobachterperspektive aus unterschiedlichen Prämissen bestehender konsensueller Bereich sich nicht nur anhand solcher Aufgaben wie der erwähnten zeigen kann:
Transkript 3:
Therapeut: Was würden Sie denn hier im PLK verändern, Frau Sch.? Frau Sch.: Ich würde einen großen Garten einrichten, damit alles harmonisch wird. Therapeut: Was halten Sie davon, Herr St.? Herr St.: Das finde ich gut, ich habe Spaß an der Gartenarbeit. Allerdings müßte das wohl ein Gärtner machen. Frau Sch.: Ja, genau. Wir brauchen einen erhabenen Gärtner, um wieder zu uns zu finden. Herr St.: Stimmt, da könnte man sich entspannen, wenn alles schön hergerichtet wäre. Therapeut: Herr St., haben Sie verstanden, was Frau Sch. möchte? Herr St.: Ich denke schon. Frau Sch.: Du willst doch das gleiche wie ich: Einen Meister, der die Natur beherrscht und den wir an-meditieren können, wenn unsere Kunst-Gedanken wie Blumen wachsen.
Die bisherigen Überlegungen haben, soweit sie sich auf referentielle Prozesse beziehen und den Begriff der Repräsentanz dabei zur Voraussetzung haben, eine Affinität zur Objekttheorie, wie sie bisher am klarsten aus psychoanalytischer Perspektive von KERNBERG (1976) formuliert worden ist. Der entwicklungspsychologische Kern der Objekttheorie ist die frühkindliche Entwicklung der Selbst- und Objektrepräsentanzen. Hierbei werden verschiedene Entwicklungsstufen mit bestimmten Störungsbildern korreliert. Symbiose (für den psychotischen Bereich) und Spaltung (für den Bereich der Borderline-Störungen) sind hier die tragenden Begriffe. Vor dem Hintergrund des für uns zum Tragen kommenden theoretischen Ansatzes der Autopoiese birgt diese Betrachtungsweise jedoch ein Risiko. Die Vermischung statischer und finalistischer Momente in ihr führen fast konsequent zu einer Verletzung des Diktums der logischen Buchhaltung. Hieraus resultiert eine Vermischung der Ebenen des Beobachters und der Ebenen des beobachteten Systems, wobei der Beobachterstandpunkt letzterem quasi übergestülpt wird. Der damit einbeschlossene Rekurs auf Spaltungs- und Symbioseprozesse verhindert möglicherweise eine differenzierte Erschließung der kognitiven Räume eines Systems im interaktiven Bereich. Im folgenden soll deshalb versucht werden, den Akzent anders zu setzen, indem Prozesse der Aufmerksamkeitssteuerung oder Fokusbildung zum Angelpunkt genommen werden. Hierzu ist jedoch zunächst ein Exkurs notwendig, der die interpersonale Theorie von SULLIVAN erläutert. In seinem inzwischen weithin vergessenen, *51 1953 zum ersten Mal erschienenen Werk "Die interpersonale Theorie der Psychiatrie" (SULLIVAN 1980) entfaltet er ein theoretisches Konzept, das vor dem Hintergrund der hier dargelegten Überlegungen zu einem nützlichen Ausgangspunkt werden kann.
Im Zentrum der Theorie SULLIVANs steht die Personifizierung genannte Konstruktion des Selbstsystems. Hierbei handelt es sich um eine Struktur von Sätzen, die aus Erfahrungen mit sich selbst und der personalen Umwelt herrühren. Der prozessuale Kern ist die Integration interpersoneller Situationen. Diese ist nach SULLIVANs Theorem der reziproken Emotion gekennzeichnet durch
Ein entscheidender Unterschied zur psychoanalytischen Objekttheorie liegt darin begründet, daß nicht der etwaigen Introjektion von Objekten, sondern der Qualität der interpersonellen Sequenz die entscheidende Rolle zukommt. Indem damit in gleichem Zuge der Akt des Wahrnehmens in den Kontext struktureller Vorbedingungen gestellt wird, offenbart sich ein konstruktivistischer Kern der Annahmen SULLIVANs.
Ähnlich wie in der Psychoanalyse, kommt entwicklungspsychologischen Faktoren auch in der Theorie SULLIVANs eine tragende Bedeutung zu. In der Theorie SULLIVANs sind es die in der Interaktion wirksamen, entwicklungsabhängigen Erfahrungsmodi, denen eine entscheidende Bedeutung zukommt. Der zunächst vorherrschende prototaktische Erfahrungsmodus ist dabei gekennzeichnet durch eine nicht verknüpfte Kette von augenblicklichen Zuständen des Organismus, der sich selbst als nicht vom Rest der Welt getrennt empfindet. Dieser Modus wird durch einen parataktischen abgelöst, wo der Bruch mit der Ganzheit vollzogen wird, ohne daß es bereits zu logischen Verknüpfungen kommt. Im syntaktischen Modus hingegen stehen konsensuell validierte Symbole im Mittelpunkt der Aktivität des Individuums.
Die Erfahrung konstituiert den grundlegenden Dynamismus eines Organismus, der nach SULLIVAN durch seine Selbstreproduktion gekennzeichnet ist: "Dynamismen werden durch Erfahrung modifiziert, die ihrerseits durch deren Manifestationen zustande gekommen ist." (1980, p. 133). Sie folgen logisch aus drei biologischen Prämissen, die SULLIVAN seiner Theorie zugrunde legt: Das Prinzip der kommunalen Existenz bezeichnet dabei die Tatsache, daß Lebewesen in einem ständigen Austausch mit ihrer Umwelt stehen, was sich in der sogenannten funktionalen Aktivität zeigt, d.h. den spezifischen Interaktionen zwischen dem Organismus oder dessen Bestandteilen und seiner Umwelt. Diese physiologischen Prozesse wiederum korrespondieren mit dem Prinzip der Strukturierung als dem morphologischen Kennzeichen vitaler Aktivität, zu der sowohl Konstanz als auch Variabilität gehören. Dabei wird von SULLIVAN postuliert, daß das für Erfahrungen notwendige Aktionspotential aus Spannungen gespeist wird. Diese Spannungen basieren auf zwei polar entgegengesetzten Tendenzen, nämlich einerseits der Tendenz zur interpersonellen Bedürfnisbefriedigung und andererseits der Tendenz zur Angstminimierung, die gleichzeitig ein grundlegendes Bedürfnis nach zwischenmenschlicher Sicherheit bedeutet. Das Selbstsystem wird entsprechend auch als Anti-Angstsystem beschrieben, das der Aufrechterhaltung interpersonaler Sicherheit dient. Je komplexer und dauerhafter die Operationen werden, desto eher werden Situationen aufgebaut, die eine Expansion des Selbstsystems erfordern.
Eine der von SULLIVAN als zu den wichtigsten Operationen gehörende ist die der selektiven Unaufmerksamkeit. Man könnte selektive Unaufmerksamkeit auch als eine Art Sicherheitsoperation zweiter Ordnung bezeichnen, da zu ihrer Aufrechterhaltung wiederum eine Reihe von Operationen notwendig bzw. möglich sind. Selektive Unaufmerksamkeit dient der Ausblendung angsterzeugender interaktiver Momente. Beispiele für entsprechende operative Muster sind Verhaltensweisen, die in der interpersonalen Situation nicht kongruent sind und Teile der eigenen Persönlichkeit ausblenden aus Furcht, durch ihre Preisgabe Angst zu erzeugen. Auch Ersatzprozesse gehören zum operativen Repertoire, z.B. hypochondrische Präokkupationen, wie sie beim hebephrenen Typ der Schizophrenie deutlich werden bei der übertriebenen Beschäftigung mit dem eigenen Körper.
Schizophrene Prozesse sind nach SULLIVAN durch dissoziative Vorgänge gekennzeichnet, die ein Verharren in Bewußtseinsprozessen ermöglichen, die es vermeiden, einer überwältigenden, eher auf parataktischen Zeichen basierenden Angst auszuweichen. Diese Erfahrung allumfassender Angst wird von SULLIVAN als Nicht-Ich beschrieben. Sie ist wie die Erfahrung guter und schlechter Anteile des Selbst und der Umwelt Teil der Konstruktion des Selbstsystems. Der totale Durchbruch überwältigender Angst wird als Desintegration und völliger Sicherheitsverlust beschrieben. Für SULLIVAN ist genau dieser Moment der eigentlich schizophrene Prozeß. Die erwähnten hebephrenen Präokkupationen oder paranoiden Fehlanpassungen, die in dessen Gefolge zu beobachten sind, etwa bei sogenannten chronischen Verläufen, sind demgegenüber eher sekundärer Natur. Sie sind u.a. dem Umstand geschuldet, daß die Erfahrung der Desintegration sich der konsensuellen Validität entzieht und eine Art privaten Lebenmodus begründen kann.
Entkleidet man die Theorie SULLIVANs ihrer zeitgenössischen sprachlichen Wendungen, so bleibt ein originelles Modell zur Erklärung psychopathologischer Phänomene im Rahmen interaktionalen Geschehens. Wissenschaftstheoretisch gesehen, ist dieses Modell relativ ökonomisch, da es mit nur wenigen Prämissen auskommt (Bedürfnis/Angst-Spannung, kommunale Existenz, funktionale Aktivität und Strukturierung), die, zumal die Rolle von Selbstreproduktion und subjektiver Wahrnehmung für das Interaktionsgeschehen betont werden, in vielen Punkten als kompatibel mit der Theorie der Autopoiese erscheinen. Das Theorem der selektiven Unaufmerksamkeit hilft uns dabei, den Fokus auf die Fokusbildung zu richten. Die Rolle von Aufmerksamkeitsprozessen in der empirischen Erforschung der Schizophrenie ist nicht zuletzt vor allem von der Theorie der Basisstörungen in Anlehnung an HUBER (1983) betont worden. Dieses "Defizitmodell" der Schizophrenie bleibt jedoch im wesentlichen dem klassischen informationstheoretischen Paradigma zugehörig. Im weitergefaßten strukturdynamischen Ansatz von JANZARIK (1988) kommt dem Desaktualisierung genannten Phänomen eine weitreichende Bedeutung zu, wobei auch Berührungspunkte mit dem Konzept der selektiven Unaufmerksamkeit aufscheinen:
Aus konstruktivistischer bzw. chaostheoretischer Perspektive hat SIMON (1988 b) auf die Bedeutung von Aufmerksamkeitsprozessen für schizophrene Phänomene hingewiesen. Das betrifft nach SIMON vor allem den interaktiven Bereich, in dem die Aufmerksamkeitsfokussierung enger- oder weitergefaßt sein kann. Im Rahmen eines formalisierten Ansatzes macht er den Wechsel zwischen konkretistischem, überexklusivem Denken mit geringgradigem konnotativen Gehalt und diffusem, überinklusivem Denken mit hohem konnotativenm Gehalt deutlich.
Fokusbildung bedeutet immer die Konstruktion eines kognitiven Raumes. Unabhängig davon, ob sich eine strukturelle Koppelung etabliert oder nicht, trennt sie einen bestimmten Bereich der Relation Person-Milieu in innen und außen, nimmt also eine Unterscheidung vor und schafft so interaktive Sicherheit. Hier ist nun aber definitorisch genauer festzulegen, was unter einem Selbstsystem zu verstehen ist, da dieses das Agens der Fokussierung darstellt. Bei SULLIVAN stellt das Selbstsystem die An-Sicht einer Person von sich selbst dar; doch diese Definition reicht nicht aus, wenn wir das Selbst als System begreifen wollen. Aus der Biologie und der Künstlichen Intelligenz ist bekannt, daß komplexe Systeme eine Reihe von Subsystemen aufweisen können, die ohne zentrale Steuerung operieren können. *52
Diese Sicht eines Selbstsystems widerspricht unserer vorgeblich apriorischen Erfahrung eines integrierten, ganzheitlichen Selbst. Zweifellos entspricht es aber dem fragmentiert scheinenden Selbst schizophrener Menschen. Aber zu dieser Sicht (wie es der Begriff vom "Spaltungs-Irresein" nahelegt) gelangen wir ja gerade aufgrund einer pathognomischen Perspektive, die die Integrität des Selbst normativ voraussetzt. Der im Deutschen gebräuchliche Begriff des Selbst stammt etymologisch aus dem 18. Jahrhundert im Sinne des Selbst-bewußten Ichs. Insofern ist es ein Produkt der Philosophie der Aufklärung, aber auch des religiös-moralischen Impetus, der die selbstverantwortlich handelnde Person ins Zentrum rückt. Jenseits dieses zeitgeschichtlich und kulturell geprägten normativen Aspektes ergibt sich jedoch noch ein antropologisch-pragmatischer: Die Prämisse eines Bedürfnisses nach Interaktionssicherheit vorausgesetzt, ist eine - in gewissen Grenzen flexible - Festschreibung selbst- und fremdwahrgenommener Eigenschaften der Person eine wichtige Voraussetzung für diese Sicherheit, die gleichzeitig eine Sicherheit der Vorhersage von Verhalten bedeutet. Folgende Definition erscheint dem angemessen: Nach der Selektion alternativer Möglichkeiten konstruiert eine Person ein Selbstsystem, dem weniger eine zentral gesteuerte oder supervidierende, sondern eher eine repräsentative Funktion zukommt. Durch Verhalten wird eine Rolle beschrieben, die die Person sich selbst und der Umwelt gegenüber repräsentiert. Dies schließt aber immer auch die Möglichkeit ein, daß andere (Sub-) Systeme der Person über Fokusbildung kognitive Räume konstruieren können. Während es sich möglicherweise bei dem Phänomen multipler Persönlichkeitsstörungen um alternierende Systeme handelt, scheint es naheliegend, daß bei schizophrenen Phänomenen dissoziative Prozesse desselben, als repräsentativ erachteten Systems die entscheidende Rolle spielen.
Ein als schizophren diagnostizierter Mensch verhält sich zwar anders als gewohnt, aber er wechselt nicht die personale Rolle, wie es für multiple Persönlichkeitsstörungen beschrieben ist. Ein Beispiel soll verdeutlichen, welche Rolle der Fokusbildung dabei zukommt:
Herr Sch., ein Patient einer Langzeitstation, kommt auf den behandelnden Therapeuten zu und fragt: "Was haben Sie sich dabei gedacht, mir Selbstmordgedanken einzugeben?" - Ein klassisches Beispiel für Fremdbeeinflussungserleben. Bei näherer Exploration können viele Menschen mit ähnlichen Erfahrungen schildern, daß es auch eine Vorstufe dieser - als Wahngewißheit klassifizierbaren - Attribution auf den Therapeuten oder eine andere Person gibt. Oft nämlich ist nur klar, daß die inkriminierten Gedanken, hier suizidalen Charakters, "gemacht" sind, von außen kommen, es aber noch unklar ist, woher sie stammen. Der "Regelfall" des Denkens ist jedoch einheitlicher Natur, da die Fokusbildung einheitlich ist: Der Fokus richtet sich nämlich auf das System, dem die Kognition entstammt. Wenn ich denke: "Morgen regnet es wahrscheinlich", dann bin ich mir "normalerweise" sicher, daß ich es bin, der diese Vermutung, z.B. aufgrund von Beobachtungen des Wetters, anstellt. Hierbei wird auch deutlich, wie eine klare Unterscheidung von innen und außen mit einem so verlaufenden Prozeß einhergeht. Bei dem beschriebenen schizophrenen Phänomen hingegen ist eine Teilung oder Dissoziation des Fokus eingetreten, da sich die Aufmerksamkeit sowohl nach innen, nämlich auf den Gedanken, als auch auf außen, die vermeintliche Quelle, richtet. Auf diese Weise entstehen quasi zwei unterscheidbare kognitive Räume: Ein als zum Subjekt gehörig betrachteter Bereich, dem die Kognitionen zugehören, als deren Quelle das Selbstsystem angesehen wird; und ein als "Objekt" klassifizierter Bereich, der außengesteuert erscheint.
Hier zeigt sich sehr eindrücklich, wie die Prozesse der Differenzierung nach innen und der Abgrenzung nach außen miteinander verwoben sind. Je nach Fokusbildung kann die Zustandsveränderung eines Systems vom betreffenden Subjekt als systeminhärent oder als durch Perturbationen induziert attribuiert werden. Richtet sich der Fokus auf das System selbst, so ist dessen Differenzierungsgrad dadurch bestimmt, auf wievielen Ebenen des Systems er operieren kann, um den Bereich autonomer Steuerungsfähigkeit auszuweiten. Nehmen wir das Beispiel eines Patienten, der aus Beobachterperspektive als zerfahren beschrieben wurde und jetzt sagt: "Ich glaube, ich rede zur Zeit etwas schnell und durcheinander." Dieser Patient richtet den Fokus auf die eigene Kognition und ändert in gleichem Zuge - der Satz ist ja kohärent - sein beobachtbares Verhalten. Anders als ein ebenfalls als zerfahren beschriebener Patient, der sagt: "Sie geben mir meine Worte ein." Dieser Patient mag zwar zunächst den Fokus nach innen gerichtet haben, indem er seine Sprechweise etwa als "verworren" klassifiziert hat. Er teilt den Fokus dann aber quasi zwischen innen und außen auf, indem er angibt, daß seine Worte ihm eingegeben werden. Dadurch verkennt er seine Strukturdeterminiertheit und engt den Bereich autonomen Handelns ein, indem er sich als Objekt beschreibt, dem die Fähigkeit zur Selbststeuerung fehlt.
Im vorangehenden Kapitel wurden zunächst die Ansätze von CIOMPI und MATURANA miteinander verglichen, wobei sich zeigte, daß CIOMPI, trotz einer Reihe konstruktivistischer Elemente, vielfach dem repräsentationistischen Paradigma verhaftet bleibt. Es wurde der Versuch unternommen, die Theorie der Autopoiese auf das Phänomen schizophrener Selbst-Abgrenzung und -Differenzierung anzuwenden. Hierbei wurde das Gleichgewicht zwischen Selbst-Identifikation und Objektkonstanz als Modus struktureller Koppelung dargestellt, dessen "schizophrene Verrückung" sich an spezifischen Reaktionsformen bei Perturbationen zeigt. Im Rahmen eines Balancierungsmodells wurden eine zweiphasige Zustandsveränderung sowie entsprechende Logiken der Wirklichkeitskonstruktion beschrieben; Wahn wurde definiert unter Bezugnahme auf Prozesse der Fremd- und Selbstreferenz. Es zeigte sich eine enge Verschränkung von Selbst-Demarkation und Binnendifferenzierung. Die wechselseitige Konstitution von Außen- und Innenwelt als Basis der Subjekt-Objekt-Trennung wurde herausgearbeitet anhand sich modifizierender Attributionsmodi. Am Beispiel therapeutischer Situationen wurde sodann das Wechselspiel zwischen Derealisation und Realitätskontrolle verdeutlicht. Schließlich wurde der theoretische Bezugsrahmen exkursorisch durch die interpersonale Theorie von SULLIVAN erweitert, das Selbst als System genauer untersucht und die Rolle der Fokusbildung für schizophrene Prozesse hervorgehoben.
Fußnoten:
32 Dies führt AEBLI (1975) dazu, bei PIAGET von einem "Substantialismus" geistiger Strukturen zu sprechen.
33 Um dies zu verdeutlichen, verweisen die Autoren auf Experimente zur Lateralisierung der Sprache. Zentral erscheinen ihnen dabei Expereimente mit jenen Personen, die in der Lage sind, über beide Hemisphären Sprache zu erzeugen und zu verstehen. Hierbei wird nicht nur die Wichtigkeit des sprachlichen Bereichs deutlich, sondern auch das Phänomen operationaler Geschlossenheit. Wurde z.B. einem nicht lateralisierten Probanden an die rechte Gehirnhälfte der Befehl erteilt sich zu kratzen, so könnte über die linke Gehirnhälfte die Frage, warum er sich kratze, die Antwort gefunden werden: "Weil es mich juckt." - Hier wurde eine kohärente Antwort erfunden, die die bisherigen Erfahrungen der Person mit sich selbst reflektiert.
34 An wenigen Stellen, z.B. PIAGET & INHELDER (1966), betont PIAGET die Wichtigkeit des Affektes, wobei er Kognition und Struktur einerseits und Affekt und Energetik andererseits in Beziehung setzt.
35 Hierbei ist zu beachten, daß MATURANA von einer viel weiteren Definition der Kognition ausgeht als CIOMPI, für den Kognition und Intellekt weitgehend zusammenfallen.
36 Auch für MATURANA & VARELA (1987) ist die "Vorfindlichkeit" der Realität die quasi "natürliche" Erfahrung.
37 SÜLLWOLD (1973) hat dies auf kognitiv-verhaltenstheoretischer Basis als Verlust von Gewohnheitshierarchien beschrieben.
38 Vgl. hierzu MATURANA & VARELA 1987, p. 189.
39 Diese Unterteilung nimmt Bezug auf POPPERs Unterscheidung der Welten 1, 2 und 3; vgl. POPPER & ECCLES 1987, JONAS 1987.
40 Die Eingrenzung von MITTERAUER (1983), bei vorhandener Eigenbeziehung überhaupt nicht von Schizophrenie zu sprechen, erscheint hingegen wenig sinnvoll, zumal die differentialdiagnostische Abgrenzung, z.B. zum apallischen Syndrom, erschwert wird.
41 K. SCHNEIDER (1949) hat deshalb versucht, Wahn formal aus der von ihm postulierten zweigliedrigen Struktur der Wahnwahrnehmung zu bestimmen; zur Kritik vergleiche SPITZER 1989.
42 Außenaspekte wie etwa meine Hautfarbe oder andere körperliche Merkmale entsprechen formallogisch fremdreferenten Aussagen.
43 In der analytischen Philosophie (z.B. RORTY 1970) wird die Unkorrigierbarkeit von Aussagen geradezu als Charakteristikum selbstbezogener Kognitionen gewertet. Vgl. hierzu und zum Folgenden auch SPITZER 1989).
44 Auch die Logik der Unwahrheit ist bei selbstreferenten Aussagen eine andere als bei fremdreferenten, da ich bei letzteren unwissentlich die Unwahrheit sagen kann. So kann ich eine harmlose Blindschleiche fälschlich als Giftschlange klassifizieren und anderen darüber berichten. Über meinen aus Sicht von Beobachtern gemachten Kategorisierungsfehler kann ich diskutieren. Die daraus resultierende Angst hingegen wird dadurch nicht "unwahrer" und entzieht sich auch der intersubjektiven Überprüfung. Im umgekehrten Falle könnte ich beim Anblick einer Blindschleiche keine Angst empfinden, und ein psychoanalytischer Beobachter mag mir eine unbewußt vorhandene unterstellen. Diese Aussage erscheint aber nach unseren Überlegungen logisch unsinnig, da Affekte als Selbstbeschreibungen und damit per se als bewußt definiert sind. Aussagen über Affekte anderer nach dem Prinzip: "Ich sehe etwas, was du nicht siehst" sind entweder immer fremdreferente Aussagen oder haben, werden sie von der gemeinten Person akzeptiert, zumindest den Charakter selbstreferenter Aussagen. So hat die Aussage: "Ich denke, daß ich Angst haben könnte, ohne sie zu empfinden" sowohl einen selbstreferenten Teil (die Tatsache des Denkens) als auch einen fremdreferenten (das, worauf der Denkprozeß sich bezieht). Diese Aussagen entsprechen strukturell inneren Dialogen über mögliche verborgene Krankheiten der eigenen Person.
45 In gewisser Weise stellt dies eine Umkehrung des Phänomens des Phantomschmerzes dar (vgl. GRAUMANN u. METRAUX, 1981). Der Unterschied liegt darin, daß beim Phantomschmerz die Ebene der kognitiven Repräsentatoin körperlicher Sensationen und die Repräsentation der Amputation auseinanderklaffen, wohingegen bei psychotischen Erlebnissen körperliche Sensationen und abstraktere Konstrukte zusammenfallen.
46 Vergleiche hierzu die Ausführungen von BROCHER und SIES 1986).
47 Das gleiche, was hier bei Halluzinationen festgestellt wurde, gilt selbstverständlich auch für den Bereich der illusionären Verkennungen. Diese unterscheiden sich von Halluzinationen bzw. "realen" Wahrnehmungen lediglich dadurch, daß sie eine Art Mischspektrum von Konsens und Dissens kennzeichnet.
48 CIOMPI (1993) führt empirische Belege für die These an, daß Affekte unter anderem synchron und diachron zusammengehörige kognitive Inhalte sinngerecht miteinander verbinden.
49 Die hier und im folgenden verwendeten Transskripte beruhen auf Verbatim-Protokollen von einzel- und gruppentherapeutischen Sitzungen mit schizophrenen Patientinnen und Patienten im PLK Wiesloch in den Jahren 1993 und 1994, die vom Verfasser durchgeführt wurden.
50 Es ist nicht konsequent, an dieser Stelle von einem "vermeintlichen Konsens" zu sprechen, da die Zuschreibung eines Dissenses lediglich ein Aspekt der Beobachtung ist.
51 mit Ausnahme z.B. von Fiedler (1994)
52 HUMPHRY und DENNETT (1989) unterziehen dieses Problem einer philosophischen Reflexion in bezug auf das Problem multipler Persönlichkeitsstörungen.
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