MATEO - Mannheimer Texte Online
Im vorangegangenen Kapitel wurde der Stellenwert der Selbst-Demarkation im Rahmen verschiedener psychopathologischer Konzepte dargestellt. Bei der Skizzierung des integrativen Modells von CIOMPI wurde die Theorie der Autopoiese, wie auch in der Einleitung, bereits grob umrissen. Die genauere Erörterung dieses Ansatzes ist seinem Transfer auf die schizophrene Selbst-Demarkation in Kapitel 4 vorangestellt. Dafür soll zunächst der Begriff der Autopoiese im Sinne eines biologischen Grundprinzips entfaltet werden. Daran schließt sich eine Darstellung des Nervensystems unter den Prämissen der Theorie der Autopoiese an, weil sich hier für "höhere" Lebewesen einige Besonderheiten ergeben. Da insbesondere der Mensch auch in der Theorie der Autopoiese als gesellschaftliches Lebewesen gesehen wird, soll der sprachlich-konsensuelle Bereich, in dem Sozialität sich realisiert, in einem weiteren Schritt erschlossen werden. Dies erscheint umso relevanter, weil die sozialen Aspekte der Konstitution von Realität auch von besonderer Bedeutung für die Konstruktion schizophrener Wirklichkeiten sind. Abschließend werden die erkenntnistheoretischen Grundlagen der Theorie der Autopoiese diskutiert. Hierbei wird insbesondere auf die Frage abgehoben, inwieweit "idealistische" Prämissen als Modellannahmen in die Theorie eingehen. Durch diese Reflexion soll eine "naive" Übertragung impliziter Axiome auf psychopathologische Phänomene vermieden werden. Denn ein tragfähiger Transfer eines übergeordneten Theoriegebäudes auf ein spezifisches Problemfeld läßt sich m.E. nur dann erreichen, wenn verborgene Grundannahmen einer Theorie samt ihrer potentiellen praktischen Folgen ausgeschlossen oder aber kenntlich gemacht werden.*17
Wie bereits im einleitenden Kapitel skizziert, handelt es sich bei der Autopoiese um den Schlüsselbegriff der Erkenntnistheorie MATURANAs. Da, wie wir noch sehen werden, Erkenntnis und Leben für MATURANA gleichsam zusammenfallen, ist die Autopoiese auch Schlüssel zur Organisation des Lebendigen. Dabei sind unter Organisation "die Relationen zu verstehen, die zwischen den Bestandteilen von etwas gegeben sein müssen, damit es als Mitglied einer bestimmten Kette erkannt wird." Demgegenüber bezeichnet die Struktur "die Bestandteile und die Relationen ..., die in konkreter Weise eine bestimmte Einheit konstituieren und ihre Organisation verwirklichen." (MATURANA & VARELA 1987, p. 54)
Wir haben bereits gesehen, wie Autopoiese durch die zirkuläre Aufrechterhaltung von Dynamik und Begrenzung (auf zellulärer Ebene: von Metabolismus und Membran) gekennzeichnet ist, wobei das eigentliche Charakteristikum dieses Prozesses ist, daß er nicht sequentieller, sondern einheitlicher Natur ist: Das System konstituiert sich durch seine ihm zugrunde liegende Dynamik als different vom umgebenden Milieu. Diese Organisationsform ist bei aller struktureller Vielfalt für alles Lebendige genuin. Hieraus resultiert zum einen die Spezifikation biologischer Phänomene im Unterschied zu physikalischen: Die Operationen autopoietischer Systeme hängen von ihrer Einheit und der Art ihrer Selbsterzeugung ab, wobei die physikalischen Phänomene lediglich ihren externen Raum bestimmen.
Die autopoietische Organisation determiniert somit autonome Einheiten. Ontogenetische Veränderungen erscheinen deshalb entweder als Ergebnis interner Prozesse oder als ausgelöst, wenn auch nicht verursacht, durch das umgebende Milieu einschließlich benachbarter anderer autopoietischer Einheiten. Einflüsse des Milieus stellen für die Einheit Störungen oder Perturbationen dar, die gemäß der inneren Struktur des Systems "verrechnet" werden und zu strukturdeterminierten Zustandsveränderungen führen. Dabei bleibt die Einheit so lange erhalten, wie Perturbationen nicht destruktiv sind, d.h. die Organisation ihre Klassenidentität behält. Einheit und Milieu perturbieren sich dabei in der Regel gegenseitig und bleiben miteinander kompatibel - sie sind damit strukturell gekoppelt. Interagieren mehrere autopoietische Einheiten miteinander auf stabile Weise, wird dies als rekursive Interaktion bezeichnet, die in eine metazelluläre Organisation (Organismus, Kolonie) als autopoietisches System 2. Ordnung resultieren kann. Die rekursive Koppelung bei operationaler Geschlossenheit führt dabei nicht - im Unterschied zur Symbiose - zu einer Auflösung individueller Grenzen. Lebewesen, die mit einem Nervensystem ausgestattet sind, stellen autopoietische Systeme dar, denen, über das bisher Ausgeführte hinaus, einige Besonderheiten eigen sind.
Höhere Lebewesen verfügen als Produkt ihrer phylogenetischen Transformationen*18 über ein Nervensystem, das zur Strukturdeterminiertheit des Organismus etwas beiträgt und dessen Voraussagbarkeit aufgrund einer neuen Komplexität mindert. Es arbeitet dabei im Rahmen seiner inneren Vernetzungsstruktur. Verhalten - also jene Haltungs- und Standortveränderungen, die ein Beobachter in bezug auf ein bestimmtes Milieu wahrnimmt und als Handlungen oder Bewegungen interpretiert - resultiert dabei aus den internen Aktivitätsrelationen des Nervensystems*19. Die gewonnene Verhaltensvielfalt, die wir gewöhnlich mit der Existenz eines Nervensystems assoziieren, ist eine Folge der gewonnenen strukturellen Plastizität: Die Geschichte der Interaktionen eines Organismus ist somit eine Geschichte von Strukturveränderungen. An den Transformationen der Ausgangsstruktur ist das Nervensystem wesentlich beteiligt, da es den Bereich potentieller Zustände erweitert*20.
Die Erweiterung des Interaktionsbereichs eines Organismus durch sein Nervensystem wird möglich, indem durch das interneuronale Netzwerk synaptische Verbindungen sensorischer und motorischer Flächen verkoppelt werden*21. Vom Nervensystem aus gesehen, versucht dieses, unter Einfluß vieler und vielfältiger, von außen nicht zugänglicher neuronaler Verschaltungen, bestimmte interne sensomotorische Korrelationen aufrecht zu erhalten. Hierbei resultiert das, was wir als Beobachter als reaktives Verhalten interpretieren, indem wir eine Verbindung Perturbation - Verhalten ökonomisch im Sinne eines Reiz-Reaktions-Schemas im weitesten Sinne beschreiben. In der Tat aber ist das Nervensystem operational geschlossen insofern, als interne Zustände konstant gehalten werden ("sollen") und eine Veränderung der Aktivitätsrelationen zwischen verschiedenen Komponenten zu weiteren Veränderungen führt. Somit ist die Interaktion des Organismus mit seinem Milieu eingebettet in die strukturelle Dynamik des Nervensystems.
Mögen die bisherigen Ausführungen den Schluß nahegelegt haben, MATURANA et al. favorisierten einen rein individuumszentrierten Ansatz, so ist hier relativierend anzumerken, daß es gerade das dialektische Spannungsfeld Einheit - Milieu bzw. Einheit - Einheit ist, auf das die Theorie rekurriert. Soziale Phänomene werden dabei im Rahmen der Entstehung von Koppelungen dritter Ordnung betrachtet, bei denen die einzelnen Organismen ihre spezifische Ontogenese innerhalb eines Netzwerkes von Ko-Ontogenesen realisieren. Damit einhergehende rekursive Interaktionen beschreiben eine operationale Begrenzung unter Einschluß ihrer selbst. Das dabei beobachtete Verhalten kann, wenn es koordiniert organisiert ist, als Kommunikation beschrieben werden (MATURANA & VARELA 1987, p. 209 ff). Für diese Verhaltenskoordination wird von den Autoren das Paradigma der Informationsübertragung, wie es vielen Kommunikationstheorien nach dem Signal-Empfänger-Prinzip - z.B. der von SHANNON & WEAVER (1949) - eigen ist, strikt abgelehnt, denn "diese Vorstellung geht von nicht strukturdeterminierten Einheiten aus, für die Interaktionen vorschreibenden (instruierenden) Charakter haben, was bedeuten würde, daß das, was einem System in einer Interaktion geschieht, durch das perturbierende Agens und nicht durch seine strukturelle Dynamik determiniert ist." (MATURANA & VARELA 1987, p. 212).
Dies gilt auch für den sprachlichen Bereich kommunikativen Verhaltens, der per definitionem dann bestimmt werden kann, wenn ein Beobachter die Kommunikation semantisch beschreiben kann. Erst der Beobachter beschreibt dieses Verhalten so, als ob die von ihm attribuierten Bedeutungen den Interaktionsverlauf bestimmen würden. Deshalb kann Denotation auch als Kommentar von Interaktionen a posteriori bezeichnet werden (MATURANA 1982, p. 259). Die Tatsache, daß sprachliche Interaktionen intersubjektiv in der Regel als effizient insofern angesehen werden können, "als ob" sie dem Informationsparadigma folgten, hängt mit der ko-ontogenetischen Koppelung zusammen (vgl. SIMON 1988 b). Sprache ist deshalb das Proprium menschlicher Gesellschaften als Metasysteme von Einheiten mit hoher Autonomie*22:
Infolge der Beobachterfunktion der Denotation können sprachliche Bereiche nicht nur in menschlichen Gesellschaften zugeschrieben werden. Die spezifische Charakteristik menschlicher Gesellschaften in bezug auf ihre Sprache entsteht erst dadurch, daß die ko-ontogenetische Koordination ihrer Handlungen das Reich der Sprache generiert, indem sprachliche Unterscheidungen sprachlicher Unterscheidungen vorgenommen werden *23 und zu entsprechenden Handlungen führen, die Teil des sprachlichen Bereichs sind. Das so sich herauskristallisierende Kriterium der Unterscheidung ist in zweifacher Hinsicht bedeutsam: Zum einen stellt es die Existenzbedingung der Beobachtung dar. Zum anderen und damit - im Sinne der Selbst-Beobachtung - aufs engste verknüpft ist es Grundbedingung des Selbstbewußtseins:
Denn:
Mit dem Begriff der Kognition ist das Proprium in der Theorie des Lebendigen, wie MATURANA und VARELA sie verstehen, bezeichnet. In ihm fallen biologische und epistemologische Perspektive in einer Weise zusammen, die zum einen insbesondere die wissenschaftstheoretische Position H. MATURANAs in die Tradition der Philosophie VICOs und KANTs stellt - auch wenn dieser ideengeschichtliche Hintergrund offensichtlich nicht bewußt gesucht wird -, zum anderen ihr qua ihrer naturwissenschaftlichen Fundierung des konstruktivistischen Standpunkts einen sehr eigenständigen Akzent verleiht (vgl. RIEGAS & VETTER 1990). MATURANA selbst lehnt es ab, eine Definition des Kognitionsbegriffs zu leisten, den er statt dessen aus seiner Verwendung heraus erklärt. Dabei kommt der Funktion des Beobachters eine zentrale Rolle zu:
Der zirkuläre Charakter lebender Systeme bedingt einen selbstreferentiellen Interaktionsbereich und beinhaltet die Voraussage von Klassen von Interaktionen mit der Umwelt, ohne die ein Zerfall des Organismus die Folge wäre. Es handelt sich somit um folgernde (interferente) Systeme, deren Interaktionsbereich als kognitiv gekennzeichnet werden kann:
Entsprechend ist ein kognitives System "ein System, dessen Organisation einen Interaktionsbereich definiert, in dem es zum Zweck der Selbsterhaltung handeln kann." (MATURANA 1982, p. 39). Folgerichtig ist Leben ein Prozeß der Kognition, und zwar unabhängig vom Vorhandensein eines Nervensystems, das lediglich, wenn auch quasi als "qualitativer Sprung", erlaubt, daß ein Organismus auch mit eigenen internen Zuständen interagiert. In einem vollständig zustandsdeterminierten Nervensystem*25 ähneln Prozesse der Selbstbeschreibung oder des abstrakten Denkens anderen Zuständen nervöser Aktivität, bei denen auf deterministische Weise Verhalten erzeugt wird, etwa Reflexen.*26
Die Unterschiede sind solche der Beschreibung: Bei reflektorischen Vorgängen beobachten wir nervöse Interaktionen ausgehend von einem spezifischen Aktivitätszustand an einer sensorischen Oberfläche. Hingegen wird beim abstrakten Denken eine Kette nervöser Interaktionen beschrieben, die mit einem spezifischen Zustand des neuronalen Systems selbst beginnt und zu bestimmten effektorischen Veränderungen führt.
Mit dem so "real-definitorisch" erschlossenen "weiten Feld" der Kognition einher geht eine Totalität des Subjekts:
Die hier skizzierte "Biologie der Kognition" resp. das Modell der Autopoiese, wie es bisher beschrieben wurde, hat zu z.T. regen Auseinandersetzungen innerhalb verschiedenster wissenschaftlicher Disziplinen wie der Biologie, der Soziologie und in begrenztem Maße auch der Psychologie geführt. Dabei wurden eine Reihe wissenschaftstheoretischer Charakterisierungen vorgenommen, die im folgenden kurz erörtert werden sollen.
Wie bereits angeführt, fügt sich das Theoriegebäude von MATURANA und VARELA in das Bild des radikalen Konstruktivismus, wie es von FÖRSTER u.a. gezeichnet wird (vgl. FÖRSTER 1988, GLASERSFELD 1988)*27 - ohne allerdings, daß sich etwa MATURANA auf eine bestimmte philosophische Tradition beruft (MATURANA 1990). Nichtsdestoweniger liegt das Verdikt nahe, einen letztlich solipsistischen Idealismus zu vertreten, i.S. eines völligen Relativismus, der das Individuum nicht nur in einer Welt des Agnostizismus zurückläßt, sondern in einem Universum eigener Vorstellungen als einziger "Realität" isoliert - nicht nur ohne Hoffnung auf das sichere Fundament wissenschaftlich objektiver Erkenntnis, wie DESCARTES sie noch in sich trug, nachdem seine skeptischen "Meditationen" zunächst alles zertrümmert hatten, bis auf die Gewißheit der eigenen - kognitiv vermittelten - Existenz. Sondern auch ohne Hoffnung auf eine Welt des sozialen Gegenüber.
In der Tat: da bei MATURANA (und ebenso natürlich bei VARELA) Wissen von der Welt verstanden wird als Resultat eines geschlossenen Kreislaufs interner Operationen, die Realität durch Unterscheidungen konstituieren, liegt die Skepsis KANTs, "Welt-an-sich" wahrnehmen zu können, nahe als idealistischer Bezugspunkt. Die Theorie der Autopoiese weist allerdings auf zweierlei Weise über den Idealismus - deren zweite über den Solipsismus - hinaus:
Zum einen verläßt die Erkenntnistheorie MATURANAs die Tradition ontologischer Grundlegungen, indem sie "die Frage nach den Gegenständen durch die Frage nach den Vorgängen, Resultaten und Wirkungen von Wahrnehmungsvorgängen und Bewußtseinsprozessen (ersetzt, O.E.)" (SCHMIDT 1990, p. 312). Dabei gilt aber gleichzeitig (und das verweist auf die empirische Basis dieser Kognitionstheorie, die im Biologischen wurzelt):
Die Theorie MATURANAs wäre somit am ehesten dialektisch als "materialistischer Idealismus" zu kennzeichnen. Und zwar dialektisch in dem Sinne, als es sich nicht um eine bloße Summation unterschiedlicher wissenschaftstheoretischer Positionen handelt (die bestenfalls die Globalität der Argumentation durch mangelnde Konsistenz erkauft, im schlechteren Falle in eine "contradictio in adjecto" mündet); sondern um den Versuch einer Synthese verschiedener wissenschaftstheoretischer Stränge, in der die Gegensätze der Positionen sich "aufheben" (vgl. ROTH 1978).
Wenn aber, zum anderen, auf die Konstatierung fundamentaler Objekte, wie eine ontologische Vorgehensweise sie liefert, verzichtet wird, wo ist dann der Angelpunkt sowohl von Wissenschaftlichkeit als auch von Soziabilität? Wenn bei MATURANA von "operationaler Effizienz" die Rede ist (vgl. GLASERSFELD 1990), ist wissenschaftstheoretisch im Grunde die Viabilität des Pragmatismus gemeint, der das wirksame Funktionieren zum zentralen Kriterieum erhebt. Dies aber verlangt, unter den Prämissen der Theorie MATURANAs, zweierlei:
Der explizite Subjektivismus der "Biologie der Kognition" legt nicht nur die Frage nach dem Verhältnis von "idealistischen" und "materialistischen" Positionen, die ihr inhärent sind, nahe. Auf methodologischer Ebene (als Meta-Ebene der Erkenntnis) erhebt sich auch die Frage nach dem grundsätzlichen Zugangsweg der Erkenntnis: läßt er sich eher als atomistischer oder als holistischer charakterisieren? Mit ISRAEL (1978) läßt sich ein wissenschaftliches Konstrukt dann als atomistisches Modell beschreiben, wenn seine grundlegenden Axiome postulieren, es gebe in bezug auf eine funktionale, genetische und/oder kausale Explikation eine Priorität des Elementes vor dem übergeordneten System, woraus folgt, daß die Analyse der Einzelelemente Voraussetzung für die Analyse des von ihnen gebildeten Systems ist. Für die sehr molare Explikationsebene sozialer Phänomene ließe sich beispielsweise folgende Heuristik der "Vor-Ordnung" als Forschungsweg nachzeichnen:
(Abb. 1) |
|
SOZIOLOGIE (der Familie -> der Institution) |
PSYCHOLOGIE (Allgemeine Psych. -> Sozialpsych.) |
||
BIOLOGIE (der Zelle -> des Zellverbands -> des Organismus / Phylogenese - Ontogenese) |
Demgegenüber postuliert die Systemtheorie bekanntlich einen umgekehrten Erklärungsweg: Gemäß dem sowohl gestaltpsychologischen als auch systemtheoretischen Satz, daß das Ganze mehr sei als die Summe seiner Teile, ist das System insgesamt der heuristische Ansatzpunkt, um Elemente kontextuell, d.h. in bezug auf die dazugehörigen systeminhärenten Relationen zu erklären.
- Wie fügt sich nun die Theorie MATURANAs in diese wissenschaftstheoretische Einordnung? Zum einen imponiert ein Rekurs auf neuronale Prozesse als empirische Basis der Kognition(stheorie); zum anderen ein konstanter Verweis auf den systemischen Charakter kognitiver Operationen. Dabei markieren die Arbeiten MATURANAs einen Wendepunkt innerhalb der Systemtheorie selbst, indem Kognition und Leben quasi gleichgesetzt werden. Die Systemtheorie wird somit von einem funktionalen Bedingungsmodell zu einer Epistemologie auf nicht lediglich analytischer, sondern empirischer Grundlage erweitert*29.
Indem einerseits autopoietische Einheiten als geschlossene Systeme beschrieben werden, andererseits eine Determination dieses Systems durch das "molarere" Medium strikt negiert wird, erscheinen, analog der Beziehung Idealismus - Materialismus, atomistische und holistische Perspektive dialektisch miteinander verknüpft. Der systemtheoretische Rekurs bleibt dabei für MATURANA nur ein bedingter: Je mehr in den letzten Jahren der Begriff der Autopoiese auf soziale Phänomene, z.B. im familiären Bereich (vgl. SIMON & STIERLIN 1984), ausgeweitet worden ist, desto restriktiver verfährt MATURANA definitorisch (im Unterschied z.B. zu MATURANA & VARELA 1987). So bezweifelt er etwa im Gespräch mit V. RIEGAS (RIEGAS & VETTER 1990) den Sinn, von autopoietischen Einheiten 3. Ordnung zu sprechen und diesen Begriff auf gesellschaftliche Systeme anzuwenden, da hier nicht die Selbstreproduktion das entscheidende Merkmal sei, sondern die Handlungskoordination der autopoietischen Entität. Die systemtheoretische Anwendung des Autopoiese-Begriffs auf gesellschaftliche Prozesse (LUHMANN 1985, 1990) mache dabei von Formalisierungen Gebrauch, hinter denen die Einheit, das Individuum, in unzulässiger Weise zurücktrete.
Wenn wir das bisher Dargestellte Revue passieren lassen, können wir konstatieren, daß die Dynamik eines (lebenden) Systems im Modell der Autopoiese unter zwei Bedingungen verstehbar*30 ist:
Die Aspekte Strukturdeterminiertheit und strukturelle Koppelung liefern, so gesehen, eine suffiziente Erklärung funktionaler Abläufe. - Handelt es sich deshalb um einen synchronistisch-ahistorischen Erklärungsansatz (ISRAEL 1979), der des Verweises auf geschichtliche Gewordenheit nicht bedarf? MATURANA & VARELA (1987, 66.) negieren dies:
Lebende Systeme folgen, wie aufgezeigt, nicht dem Informationsparadigma der "Artificial Intelligence"-Forschung. Vielmehr handelt es sich, wie FOERSTER (1988 b) ausführt, um "nicht-triviale Maschinen", deren Wirkungsweise zwar auch synthetisch determiniert, gleichzeitig aber analytisch unbestimmbar, vergangenheitsabhängig und unvoraussagbar ist. Für MATURANA & VARELA (1987) lassen sich historische Transformationen von Lebewesen dabei zwar im Rahmen evolutionärer Prozesse verstehen. Gegenüber klassischen darwinistischen und neodarwinistischen Auffassungen von der Evolution ergeben sich aber im Modell der Autopoiese zwei abweichende Theorieelemente:
Erstens wird in bezug auf das evolutionäre "Material" eine Relativierung insofern vorgenommen, als festgestellt wird, daß die DNS nur einen Baustein innerhalb des autopoietischen Netzwerkes darstellt, die molekularbiologische Auffassung von informationeller Determination somit in die Irre führt.
Zweitens ersetzen MATURANA & VARELA das Konzept natürlicher Auslese mit dem Resultat zunehmender organismischer Anpassung - also die Idee einer Optimierung durch Ausnutzen der Umwelt - durch das Theorem des natürlichen Driftens: Der Fortbestand eines Systems ist sowohl phylo- als auch ontogenetisch gewährleistet, solange Perturbationen der Umwelt kompensiert werden können, die Autopoiese fortgesetzt werden kann. - Evolution wird also verstanden als fortgesetztes strukturelles "Treiben" bei phylogenetischer Selektion, wobei der Begriff der "Auslese" von jeder Assoziation strikt geschieden wird, die sie als Quelle instruierender Interaktionen durch die Umwelt erscheinen läßt.
So wird im Grunde aus der "positiven Auslese" (DARWINs "survival of the fittest") eine "negative", indem lediglich jene lebenden Systeme im evolutionären Prozeß nicht bestehen, denen es nicht gelingt, sich in einer Nische gegenüber potentiell destruktiven Perturbationen zu behaupten. Die mit dieser Auffassung korrespondierende Erkenntnistheorie kann deshalb auch keine "evolutionär-realistische" sein, wie etwa bei POPPER *31, da dies ein sukzessives Erkennen der objektiven "Naturtatsachen" voraussetzen würde. Die lebenden Systeme i.S. MATURANAs sind aber auch in dieser Perspektive weder solipsistische Monaden, noch nähern sie sich linear "der" Wirklichkeit. Sie konstruieren vielmehr ihre eigene Realität so lange, wie sie in ihrer Nische ihre Organisation aufrecht erhalten können.
Aus wissenschaftstheoretischer und gleichzeitig psychologischer Perspektive sind von NÜSE et al. (1991) einige wichtige Argumente gegen die Postulate des Radikalen Konstruktivismus vorgebracht worden. Die Stoßrichtung ihrer Argumentation zielt dabei vor allem gegen eine solipsistische Metatheorie, die die Möglichkeit jeglicher Umweltrepräsentation leugnet. Die Autoren stellen dabei relativierend fest, daß die sogenannte "reine" Theorie der Autopoiese ohne metatheoretische Implikationen (vgl. MATURANA 1982) bzw. die konstruktivistische Theorie des Nervensystems von ROTH (1978) für sich genommen noch keinen Radikalen Konstruktivismus darstellen.
Da ein Kennzeichen des Radikalen Konstruktivismus darin besteht, daß ein Folgerungszusammenhang zwischen objekt- und metatheoretischer Ebene konstruiert wird, beziehen sich auch die Gegenargumente der Autoren auf beide Ebenen. Hierbei ist ein hauptsächlicher Einwand auf objekttheoretischer Ebene die empirische Befundlage. Zu Recht verweisen NÜSE et al. darauf, daß es nur wenige empirische Belege dafür gibt, daß Außenweltereignisse und Wahrnehmung nicht korreliert sind. Eines der wenigen Beispiele sei das Farbsehen. *31a)
Für eine Reihe von Reizen wie Wärme oder Helligkeit ließen sich aber durchaus Korrelationen zwischen physikalischem Reiz und Wahrnehmung finden, wenngleich die Beziehungen oft nicht linear seien.
Auf metatheoretischer Ebene bzw. auf der Ebene der Verknüpfung von Objekt- und Metatheorie wenden die Autoren das Selbstwiderlegungsprinzip an. Betrachtet man den Satz: "Wir können nichts über die Welt sagen, weil wir autopoietische Systeme sind", dann kann dieser in der Tat als selbstwiderlegend kritisiert werden. Denn dort, wo keine Aussage über die Außenwelt möglich ist, ist auch keine Aussage darüber möglich, daß ein bestimmtes System autopoietisch sei. Läßt sich letzteres jedoch nicht behaupten, so läßt sich auch nicht die Konklusion ableiten, daß nichts über die Außenwelt aussagbar sei.
Die angesprochenen Schwierigkeiten stehen meines Erachtens in Zusammenhang mit einer Tendenz des Konstruktivismus zur Dichotomisierung: Eine metatheoretische Radikalisierung, derzufolge eine auch nur irgendwie geartete Repräsentation von Wirklichkeit als ausgeschlossen gilt, führt zu einer scharfen Abgrenzung gegenüber einem naiven Realismus, der so allerdings in der modernen Wissenschaftstheorie kaum noch existiert. Diese Position jedoch ist nicht zwingend, zumal dann, wenn wir uns auf die Theorie der Selbstorganisation, wie sie MATURANA und VARELA entwickelt haben, beziehen. Auch wenn wir die Prämisse der operationalen Geschlossenheit des Nervensystems akzeptieren, heißt dies nicht, daß Außenreiz und Wahrnehmung nie miteinander korrelieren (können). Die von NÜSE et al. beschriebenen logischen Widersprüche relativieren sich, wenn wir beachten, daß das Prinzip der Strukturdeterminiertheit lediglich als Primat des Wahrnehmungsprozesses fungiert. Die Wahrnehmung der Außenwelt wird somit prinzipiell von der Struktur des wahrnehmenden Systems determiniert. Im Ergebnis heißt dies, daß es intra- und interindividuelle Unterschiede dahingehend geben kann, ob Reiz und Empfindung linear, nicht-linear oder gar nicht miteinander korreliert sind. Empirische Prüfungen auf verschiedenen Objektebenen werden wahrscheinlich zu verschiedenen Ergebnissen kommen. Diese bleiben jedoch prinzipiell unvorhersagbar und maximal in stochastischen Begriffen beschreibbar. Wahrnehmungen können als Konstruktionen betrachtet werden, aber auch Konstruktionen müssen ihre Effektivität unter Beweis stellen. Das Effektivitätskriterium erlaubt, ein Handeln in der Welt danach zu bemessen, inwieweit dieses so funktioniert, als ob "Repräsentation" und Außenwelt zumindest annäherungsweise übereinstimmen. Eine darüber hinausgehende Aussage über die empirische Gültigkeit dieser Übereinstimmung läßt sich logisch sinnvoll nicht treffen, wie z.B. ROTH (1994) aufzeigt. Aber selbst wenn keine exakte Korrelation zwischen einem spezifischen Sinnenreiz wie etwa einer Farbe und seiner "Repräsentation" aufgrund seiner Verarbeitung im Nervensystem besteht, so muß doch eine bestimmte Korrespondenz zwischen Subjekt und umgebendem Medium herstellbar sein. Andernfalls wären strukturelle Koppelungen, wie sie sich zum Beispiel im Straßenverkehr beim Sehen der Farbe "Rot" bemerkbar machen, nicht denkbar. Ein radikal solipsistisch verstandener Konstruktivismus liefe Gefahr, zu einem radikalen Relativismus zu werden, der sich einem wissenschaftlichen Diskurs durch Selbstimmunisierung entzieht.
Es wurde dargestellt, daß das Prinzip der operationalen Geschlossenheit lebender Systeme das Kernstück der Theorie der Autopoiese bildet. Dies gilt auch für Systeme, die, wie der Mensch, ein Nervensystem besitzen und damit über ein größeres Interaktionsfeld verfügen. Unterlegt ein Beobachter rekursiven Interaktionen semantische Bedeutungen i.S. gegenseitiger Verhaltenskoordination, erschließt sich der sprachliche Bereich, dessen Kern die Unterscheidung ist. Sie ermöglicht Beobachtung und Selbst-Beobachtung, also Selbst-Bewußtsein. Lebende Systeme sind kognitive Systeme, die einen Interaktionsbereich zum Zweck ihrer Selbsterhaltung definieren. Dieser Bereich beinhaltet Voraussagen von Interaktionen mit dem umgebenden Milieu. Innerhalb dessen befindet sich ein lebendes System vom Beobachterstandpunkt in einer Nische. Das System bleibt so lange bestehen, wie es strukturdeterminiert Perturbationen der Umwelt kompensieren kann. Aufgrund der Determiniertheit des Systems kann es keine Informationen aus der Umwelt im Sinne einer Input-Output-Relation geben. Dies gilt auch für den Bereich der Evolution: hier wäre abweichend von DARWIN besser von einer negativen Auslese von Organismen die Rede, die innerhalb ihrer Nische Perturbationen nicht mehr kompensieren können.
In der Diskussion der erkenntnistheoretischen Implikationen wurde gezeigt, daß die besondere Bedeutung des intersubjektiven Konsenses es ausschließt, die Theorie von MATURANA et al. als solipsistisch zu bezeichnen. NÜSE et al. haben allerdings gezeigt, welche Gefahr darin liegt, den inhärenten Relativismus der Theorie durch Übergeneralisieren und eine zu enge Verknüpfung von objekt- und metatheoretischer Ebene zu überziehen. Der Begriff einer Repräsentation der Außenwelt kann auch beibehalten werden, ohne Repräsentationen als ikonische mißzuverstehen oder ein informationstheoretisches Modell zugrunde zu legen, wenn Repräsentation als relational angesehen wird.
Die ideologisch-empirische Fundierung der Theorie steht ihrer klaren Einordnung in die Tradition des Idealismus entgegen, wenngleich ihre Subjektbezogenheit ideengeschichtlich in KANTs Transzendentalphilosophie wurzelt. Am Prinzip der operationalen Geschlossenheit wird deutlich, daß sich atomistische (Vorrang der Einheit) und holistische (Vorrang des Systems) Aspekte miteinander verknüpfen. Und ebenfalls zeigt sich, daß funktionale Abläufe prinzipiell durch die damit zusammenhängenden gegenwärtigen Relationen erklärt werden können. Nichtsdestotrotz wird auf die Geschichte eines Systems, z.B. mit Hilfe des Theorems des strukturellen Driftens, Bezug genommen, so daß sich die Theorie nicht als ahistorisch erweist.
Fußnoten:
17 Zur Differenzierung und Kritik konstruktivistischer Objekt- und Metatheorie vgl. NÜSE et al. (1991).
18 Dies entspricht evolutionären Prozessen, die von MATURANA als Driften beschrieben werden; vgl. 4.3.1.5.
19 MATURANA & VARELA (1987) verweisen in diesem Zusammenhang auf neurophysiologische Experimente wie etwa auf die Studie von SPERRY (1945), bei der einer Kaulquappe ein Auge operativ um 180° gedreht wurde: Wird beim entwickelten Frosch das gesunde Auge zugehalten, um mit dem anderen eine Fliege zu fixieren, so zielt die Zunge des Tieres mit einer Abweichung von exakt 180° nach dem Objekt, so, als ob der Netzhautbereich des Frosches in seiner normalen Lage wäre. Für MATURANA & VARELA ist das ein Beleg für die Prämisse der vorrangigen Relevanz interner Korrelationen, in dem Fall zwischen Perturbation der Netzhaut und Muskelkontraktion, wobei für einen Beobachter diese sensomotorische Korrelation keine sinnvolle Verrechnung der Umwelteindrücke darstellt, wie er sie wahrnimmt. - Für den umgekehrten Fall einer im Sinne des Beobachters sinnvollen Handlungsweise in einem umschriebenen Milieu ziehen die Autoren des öfteren die "U-Boot-Metapher" zur Verdeutlichung heran: ein U-Boot-Kommandant könnte, ohne direkten Außenkontakt und lediglich gestützt auf seine Instrumente, ohne von "unserer Welt" überhaupt zu wissen, elegant eine Vielzahl an Kliffs umschiffen, um, aufgetaucht, von einem Beobachter zu hören, wie gut er den Hindernissen ausgewichen sei. Er würde dann vermutlich erstaunt antworten, er wisse davon nichts, er sei nur den Angaben
20 Ein Beispiel hierfür ist die Relevanz taktiler u.a. Stimulation als Teil der Interaktion zwischen Muttertier und Neugeborenem in der sensiblen Phase vieler Säugetiere. Bei einer Reihe von Tieren führen Unterlassungen offensichtlich zu strukturellen Veränderungen des Nervensystems und in der weiteren Folge zu Einschränkungen im interaktionalen Bereich. Diese Befunde korrespondieren im übrigen mit dem Konzept der neuronalen Plastizität von HORACZ (1985).
21 Die synaptische Verschaltung ist für die neuroleptische Therapie der Schizophrenie qua Beeinflussung der Neurotransmitter zentraler Ansatzpunkt.
22 Organismen hingegen sind Metasysteme geringer Autonomie der Einheiten.
23 Zum logischen Kalkül der Sprache vgl. SPENCER-BROWN 1979 sowie SIMON 1988.
24 Dies entspricht prinzipiell der linguistischen Position WHORFs (1956). - MATURANA & VARELA (1987) verweisen in diesem Zusammenhang auf die Kommissurektomie-Experimente zur sprachlichen Lateralisierung; vgl. hierzu auch POPPER & ECCLES 1987, p. 368 ff.
25 Zur Diskussion des empirischen Nachweises der operationalen Geschlossenheit des Nervensystems in der biologischen Forschung vgl. RIEGAS (1990). - VARELA (1991) erweitert das Konstrukt im übrigen auf immunologische Prozesse.
26 Die dieser Auffassung inhärente Behauptung prinzipieller Unabhängigkeit des abstrakten Denkens von der Sprache unterscheidet MATURANAs Position entscheidend von der WHORFs; s. o. zu Übereinstimmungen. - Hinsichtlich ihrer Entstehung als Verhaltensmodi sind Denken und Sprechen dabei logisch konsistent (MATURANA 1982, p. 75 f).
27 Im deutschsprachigen Raum ist die Rezeption und Interpretation radikal-konstruktivistischer Positionen vor allem durch die Siegener NIKOL-Gruppe um HEJL u.a. geprägt.
28 VARELA (1991) erwähnt das Immunsystem als "zweites Gehirn", das zur Ausbildung einer kognitiv-körperlichen Identität beiträgt.
29 LUHMANN (1988) sieht gerade dies als entscheidende Veränderung der Systemtheorie an.
30 Nach SIMON (1988 a) fallen in der Theorie MATURANAS analytische und hermeneutische Aspekte, also Erklären und Verstehen, zusammen.
31 Zur Realismus-Diskussion vgl. SANDKÜHLER (1991) und in diesem Band insbesondere den Beitrag von PUTNAM.
31 a) Bekanntlich war dies ein biologisch-empirischer Ausgangspunkt für den Diskurs MATURANAs (1982).
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