MATEO - Mannheimer Texte Online


1. Zur Einführung

Im wissenschaftstheoretischen Diskurs der letzten Jahre nimmt der von MATURANA, VARELA u.a. initiierte Radikale Konstruktivismus eine wichtige Rolle ein. Und obwohl er auch in diversen klinisch-psychologischen Anwendungsfeldern, wie etwa der Familientherapie, rezipiert und dabei z.T. auch modifiziert wurde, fand eine eingehende Erörterung dieses Ansatzes innerhalb der Theoretischen Psychologie bisher kaum statt. (Eine Ausnahme bildet die kritische Aufarbeitung von NÜSE et al. 1991).

Das Feld schizophrener Phänomene wiederum überließ die Klinische Psychologie lange Zeit und in weiten Strecken der psychiatrischen Nachbardisziplin selbst dann noch, als die wissenschaftliche Diskussion bestimmt war vom Impetus der antipsychiatrischen Negation der klassischen Psychopathologie und der Institution der psychiatrischen Anstalt. *1 Zwar gibt es eine ganze Reihe experimental-psychologischer Forschungen vor allem im Zusammenhang mit dem Basisstörungskonzept der Schizophrenie; ferner auch etliche Ansätze zu therapeutischen Interventionen.*2 Theoretische Modelle aber, die unter expliziter Einbeziehung erkenntnistheoretischer Positionen Ansatzpunkte für eine "Meta-Psychologie" der Schizophrenie liefern könnten, fehlen weitgehend.

Die vorliegende Arbeit unternimmt deshalb den Versuch, die Theorie der Autopoiese *3 von MATURANA u.a. auf ein umschriebenes Feld schizophrener Phänomene - die Selbst-Demarkation und -Differenzierung - anzuwenden und für die psychologische Theoriebildung in diesem Bereich fruchtbar zu machen.

Um in die Thematik einzuführen, wird im folgenden zunächst die Geschichte des Schizophrenie-Begriffs beleuchtet und sodann versucht, den Zusammenhang zwischen Schizophrenie und Autopoiese sowie noch einmal eingehender die Intention der vorliegenden Studie zu verdeutlichen. Dieses einleitende Kapitel schließt ab, indem die Gliederung des nachfolgenden Hauptteils umrissen wird.

1.1 "Spaltungsirresein" - Anmerkungen zu Geschichte und Konnotationen des Schizophreniebegriffs

Die Schizophrenie ist in der Vorstellungswelt psychiatrischer Laien - und wohl nicht nur dieser - zum Klischee geronnen.

Für die meisten Menschen ist Schizophrenie die Geisteskrankheit par excellance. STUMME (1974) hat in seiner Studie "Psychische Erkrankungen - im Urteil der Bevölkerung" gezeigt, daß mit dem Wortfeld des Adjektivs "schizophren" Begriffe wie "irr", "verrückt", "schwachsinnig" usw. eng verknüpft sind. Wie KATSCHNIG (1984) ausführt, hat das Fehlen unmittelbarer Erfahrung im Umgang mit schizophrenen Menschen dazu beigetragen, daß die so entstandene Erfahrungslücke sich mit irrigen Assoziationen füllen konnte, deren eine der Topos der "gespaltenen Persönlichkeit" ist, wie er literarisch-klassisch in R. L. STEVENSONs Buch "Dr. Jekyll and Mr. Hyde" dargestellt wird. Dieses Klischee steht, logisch eher unverbunden, neben dem anderen des fortschreitenden geistigen Verfalls. Letzteres entspricht weniger der Belletristik als vielmehr der psychiatrischen Literatur des 19. Jahrhunderts, etwa der Lehre KRAEPELINs, und hat seinen historischen Anhalt u.a. in institutionell bedingten Hospitalisierungsschäden, die nicht nur für die typischen Heil- und Pflegeanstalten des 19. Jahrhunderts, sondern z.T. auch für Fachkrankenhäuser und Heime heutigen Typs aufzeigbar sind (GOFFMAN 1972; FINZEN 1974; WING & BROWN 1970).

Die Etablierung der Psychiatrie als Wissenschaft beginnt mit der "Ausgrenzung der Unvernunft" (DÖRNER 1984) seit der Renaissance in zweifacher Hinsicht:

Gegen Ende des 19. Jahrhunderts verdichtet und systematisiert sich der "klinische Blick" zur Psychopathologie. Die Pathologie als Lehre von den (organischen) Krankheiten erfährt damit eine nicht unproblematische Ausweitung auf das Feld psychischer Phänomene. Die wissenschaftstheoretische Axiomatik der klassischen Naturwissenschaften und ihrer mechanistischen Anwendungen, die zuvor die (körper)-medizinische Anthropologie revolutioniert hatte, hält so auch Einzug ins Forschungsfeld "Psyche". Die implantierte Wissenschaftslogik absorbiert somit das tradierte mytho-logische Bedeutungsumfeld. - Zu einem solchen Schluß kommen auch die Sozialwissenschaftler SARBIN und MANCUSO:

"Etymologisch war diese Verbindung von 'Psyche' und 'Pathologie' zwar korrekt; sie führte jedoch zu einem unerlaubten Eklektizismus. Bereits die biologischen Wissenschaften hatten sich das Vorrecht gesichert, den Begriff der Pathologie zur Verständigung über nachweisbare, krankheitsverursachende Einheiten, wie Toxine, Traumata, Parasiten usw., zu verwenden. Diese Einheiten standen in der Tradition der Energie-Übertragungs-Metapher der mechanistischen Wissenschaft. Der Begriff der 'Psyche' bildete dagegen keine Kategorie der mechanistischen Wissenschaft. Es handelte sich dabei vielmehr um einen Begriff, der aus einer längst vergessenen Transformation einer Metapher in einen Mythos entstanden war. ... In dieser Metapher gibt es keinen Platz für kausale Zusammenhänge. Die Psychopathologie ... verband die Abstraktionen des Formalismus mit den konkreten, wahrnehmbaren Objekten des mechanistischen Universums. Wenn wir die Geschichte der medizinischen Psychologie und Psychiatrie betrachten, so wird deutlich, daß der Wissensdruck der Leute, die sich mit dem ... allen Erfahrungen widerlaufenden Verhalten anderer Menschen befaßten, sozusagen mit einem Kraftakt aufgehoben wurde: Man erklärte ein derartiges Verhalten als Folge von Krankheitsprozessen, die noch entdeckt werden müßten. Die frühen Modelle zur Erforschung dieses Verhaltens, das man jetzt zur 'Krankheit' gemacht hatte, stützten sich nunmehr auf die Diagnose von neurologischen Störungen, und so wurden die Theorien der Psychopathologie ein Abbild der Theorien der Organpathologie."
(SARBIN & MANCUSO 1982, p. 197).

So kann WERNICKE (1900) - hier ganz in der Tradition des somatologischen Modells der Seele von GRIESINGER (1845) - den Konsens der "scientific community" konstatieren, daß Geisteskrankheiten Gehirnkrankheiten sind. Die vielen psychopathologischen Erscheinungen werden, gemäß der klassifikatorischen Tradition des 18. Jahrhunderts im Sinne LINNEs und den Forderungen KAHLBAUMs (1866) für eine wissenschaftliche Psychiatrie entsprechend, erstmals von KRAEPELIN (1899) prägnant zu den beiden Gruppen des manisch-depressiven Irreseins und der "Dementia praecox" zusammengefaßt; eine Aufteilung, die bis heute das psychiatrische Denken dominiert. Für die begriffliche Bestimmung der "Dementia praecox" sind dabei symptomatologische und ätiologische Vorstellungen ausschlaggebend. Zum einen wird ein progredienter Verlauf der "Verblödung" für kennzeichnend gehalten, zum anderen die Verwandtschaft mit bekannten somatischen Krankheiten (vor allem der "Dementia paralytica") nahegelegt.

BLEULER (1911), der den Begriff der "Dementia praecox" durch die Einführung des Begriffs der Schizophrenie ersetzt, spricht angesichts der feststellbaren Symptom- und Verlaufsvielfalt von der "Gruppe der Schizophrenien" und hebt die "Assoziationslockerung" als charakteristisches Merkmal hervor.

Kennzeichnend für die klassische Psychiatrie ist die Überzeugung, daß die psychische Symptomatik auf Störungen somatischer Elementarfunktionen zurückzuführen ist, die in der Regel im Gehirn lokalisiert werden und deren Entdeckung als eine Frage der Zeit gilt. Das Ausbleiben eines schlüssigen Nachweises einer somatischen Genese begünstigt indes schon bald eine deskriptiv ausgerichtete Psychopathologie, die vor allem mit den grundlegenden Arbeiten von JASPERS (1913), K. SCHNEIDER (1923) sowie C. SCHNEIDER (1930) verknüpft ist. Die Klassifikation schizophrener Symptome und deren Zusammenfassung zu Syndromen erfolgt dabei nach dem Paradigma der medizinischen Nosologie mit Hilfe hierarchischer und prinzipiell disjunkter Klassen. Diese Nosologie ist bis heute vorherrschend in der Psychiatrie, so etwa in der WHO-Klassifikation ICD-10 (DILLING et al. 1991) und mit spürbarem Einfluß auch noch beim mehrdimensionalen Achsenmodell des DSM-IV (APA 1994).

Unter dem Eindruck biologisch orientierter Therapieverfahren, insbesondere der Pharmakotherapie seit den 50er Jahren, und einer Vielzahl von Zwillings- und Adoptionsstudien, die genetische Einflüsse nahelegen (KRINGLEN 1971), kommt es zu einer Verfestigung des Endogenitätskonzepts, das noch näher zu erforschende intrapersonale somatische Faktoren als Triebfeder psychotischer Prozesse postuliert. Versuche, die Schizophrenie psychodynamisch (FREEMAN et al. 1969) oder kommunikationstheoretisch (BATESON et al. 1970) zu verstehen, bleiben trotz ihrer teilweise forschungs- und publikationsfördernden Wirkung insgesamt gesehen doch eher isoliert. Der Versuch, eine antipsychiatrische Kontraposition zu etablieren, in der Schizophrenie als medizinisch-gesellschaftlicher Mythos (SZASZ 1961) und der Patient als Opfer sozialer Rollenzuschreibung (SCHEFF 1963) gesehen wird, bleibt, bis auf das Beispiel der italienischen Psychiatrie-Reform (GIESE 1982), Episode.

Das Manko der gegenwärtigen Schizophrenieforschung, daß es bis heute nicht gelungen ist, etwa in der Experimentalforschung (RUCKSTUHL 1981), eindeutige Kausalfaktoren zu identifizieren; sowie das Ungenügen sowohl an der klassischen Psychopathologie (die der Phänomenvielfalt des schizophrenen Formenkreises kaum gerecht wird und trotz deskriptiver Ausrichtung ätiologische Prämissen implizit mittransportiert) als auch an eindimensionalen Ursache-Wirkungs-Modellen - all dies hat zur Konstruktion von Rahmenmodellen geführt, die das Zusammenwirken verschiedener Faktoren und Ebenen erklären sollen. CIOMPI (1982) hat in seinem Modell der Affektlogik versucht, psychodynamische und kognitiv-psychologische Gesichtspunkte der Schizophrenie kohärent zusammenzufügen. Er hat dazu ein Rahmenmodell des schizophrenen Verlaufs entworfen, das biologische und psychosoziale Elemente zum Verständnis des Phänomens heranzieht. Ausgehend vom Vulnerabilitätskonzept von ZUBIN & SPRING (1977), das Schizophrenen eine prämorbide "Verletzlichkeit" als "trait" zuschreibt, konstatiert CIOMPI sowohl biologische als auch soziale und familiäre Faktoren (wobei er sich auf das "expressed emotions"-Konzept von VAUGHN & LEFF, 1976, bezieht, die eine Operationalisierung familientheoretischer Theoreme wagen). Dieses "Faktorenbündel" trägt nach CIOMPI sowohl zur Ausgestaltung des vulnerablen Terrains bei - z.B. im Sinne einer Informationsverarbeitungsstörung - als auch zur Auslösung psychotischer "states" und zur Entwicklung ihres Langzeitverlaufs. CIOMPI (1989) nennt in diesem Zusammenhang vier Mediatoren:

Der letztlich als systemisch zu kennzeichnende Ansatz CIOMPIs integriert eine Vielzahl empirischer Untersuchungsergebnisse auf komplexem theoretischen Niveau. Wenn im folgenden versucht wird, erkenntnistheoretische Postulate auf den Bereich schizophrener Störungen anzuwenden, dient CIOMPIs Ansatz deswegen häufig als Referenzmodell, zumal sich auch schizophrene Phänomene nicht theoriefrei beschreiben lassen und es vielmehr auf die Explizitheit der theoretischen Position ankommt (SNEED 1976). Überdies bringt uns die Theorie von PRIGOGINE, auf die CIOMPI sich bezieht, mit einem neuen wissenschaftlichen Paradigma in Berührung, das das Terrain eindeutiger Kausalketten verläßt und uns in unserer Rolle als "Beobachter" (Forscher/Diagnostiker) hinterfragt, ja diese Rolle "kontextualistisch" (SARBIN & MANCUSO 1982) als konstitutiven Bestandteil der "Störung" ansieht: dem Konstruktivismus.

1.2 Wiedergewonnene Subjektivität? - Hinführende Gedanken zum Zusammenhang von Schizophrenie und Autopoiese

Die bisherige Schizophrenieforschung ist durch mehrere Aporien gekennzeichnet:

Der Konstruktivismus, von einer reinen Erkenntnistheorie unter dem Einfluß der Systemtheorie und Kommunikationsforschung längst zu einer umfassenden Wissenschaftstheorie lebender Systeme fortgeschritten (GLASERSFELD 1985), nimmt für sich in Anspruch, ein neues wissenschaftliches Paradigma zu etablieren, das in bezug auf die o.a. Aporien Antworten formuliert bzw. neue Zugänge eröffnet. Im deutschsprachigen Raum ist der Konstruktivismus mit dem Namen JANTSCH verknüpft, der sich in vielfältiger Weise auf die Arbeiten von PRIGOGINE stützt (JANTSCH 1982, PRIGOGINE & STENGERS 1984). PRIGOGINE erfaßt

"die Tatsache, daß unter dem Einfluß von Feedbackwirkungen in komplexen, dynamischen Systemen fern vom Gleichgewichtszustand eskalierende Prozesse und nichtlineare Entwicklungssprünge auf neue Funktionsebenen auftreten können, die, weil sie die Energie in komplexer Weise verteilen, 'dissipative Strukturen' heißen. ... Entwicklungssprünge in solchen Systemen erfolgen nach einer charakteristischen Phase der Destabilisierung durch sogenannte 'Fluktuationen'; an kritischen Punkten der Entwicklung treten dabei sogenannte 'Bifurkationen', d.h. Verzweigungsmöglichkeiten auf, die, einmal gewählt, nicht mehr rückgängig zu machen sind. Der Entscheid für die eine oder andere Möglichkeit hängt oft von zufälligen Umwelteinflüssen ab; unter Umständen können kaskadenförmig mehrere solche Bifurkationen nacheinander durchlaufen werden."
(CIOMPI 1989, p. 34).

Solche dissipativen Strukturen sind nach der Theorie von JANTSCH sowohl für den anorganischen Bereich als auch für den Bereich biologischer und sozialer Systeme zu beschreiben (PRIGOGINE & STENGERS 1984). Im Mittelpunkt der Theorie von JANTSCH stehen dabei "autopoietische" Prozesse:

"Hohes Ungleichgewicht, das die selbstorganisierenden Prozesse in Gang hält, wird ... durch ständigen Austausch von Materie und Energie mit der Umwelt, also durch Metabolismus und Stoffwechsel, aufrechterhalten. Die Dynamik einer solch global stabilen, doch niemals ruhenden Struktur wurde Autopoiese (Selbstproduktion oder Selbsterneuerung) genannt. Ein autopoietisches System trachtet in erster Linie nicht danach, irgendeinen Ausstoß zu produzieren, sondern sich selbst ständig in der gleichen Prozeßstruktur zu erneuern. Autopoiese ist ein Ausdruck der grundlegenden Fähigkeit von Struktur und Funktion, jener Flexibilität und Formbarkeit auf Grund dynamischer Beziehungen, die Selbstorganisation erst ermöglicht. Ein autopoietisches System ist durch eine gewisse Autonomie gegenüber der Umwelt gekennzeichnet, die als ein der Existenzebene des Systems entsprechendes Bewußtsein aufgefaßt werden kann. Die Größe einer dissipativen Struktur ist zum Beispiel von der Größe des Umwelt-Freiraumes unabhängig, solange dieser nicht so klein ist, daß er die Bildung der Struktur verhindert."
(JANTSCH 1982, p. 37).

Dabei steht die Theorie von JANTSCH für einen Wandel vom zustands- zum prozeßorientierten Denken. Im gleichen gedanklichen Zusammenhang sieht VARELA (1985) Leben als autonomisierenden Prozeß an, in dem die lebende Einheit (etwa eine Zelle) sich von ihrer Umgebung abgrenzt infolge molekularer Produktionsvorgänge, die im Prozeß der Selbsterzeugung gleichfalls von der Grenze bedingt werden:

"Die Operationen bilden einen geschlossenen Kreis, und dadurch liegen die Produkte auf derselben Ebene wie die Produktionsvorgänge. Innerhalb dieser Organisation verlieren damit die gewöhnlichen Unterscheidungen zwischen Produkt und Produzent, zwischen Anfang und Ende oder zwischen 'input' und 'output' ihren Sinn."
(VARELA 1985, p. 297).

In dieser Situation vollzieht sich Kognition als Selbst-Erkenntnis; ihr Ort ist das biologische Substrat, wobei gleichwohl Selbstbeschreibungen auf unendlich vielen Ebenen geliefert werden können, die den autoreferentiellen Erfahrungshorizont des Selbst bilden. Die Konstitution des Selbst vollzieht sich dabei in einer abgegrenzten Umwelt auf der Grundlage sensorisch-motorischer Zirkel; das "Errechnen der Wirklichkeit" (FOERSTER 1985) beruht auf einem System rekursiver Operationen, wobei sich die Ebene der eigentlichen Operationen von der ihrer Organisation unterscheiden läßt.

Das Individuum konstruiert somit eine Subjekt-Objekt-Beziehung, die es durch die Realisation von Meta-Ebenen erlaubt, sich in seinen vielfältigen inneren Zuständen selbst zu analysieren:

"Komplexe kognitive Systeme haben die Möglichkeit, mit eigenen internen Zuständen so zu interagieren, als ob es sich um isolierbare Gegenstände handelte. Auf diese Weise können sie Beschreibungen ihrer Interaktionen erzeugen und in weiteren Schritten sich als sich selbst beschreibend beschreiben ..."
(HEJL 1978, p. 233 f).

Das umfassendste konstruktivistische Konzept, das neurophysiologische und kognitionstheoretische Betrachtungsweisen miteinander verbindet, hat zweifellos der chilenische Neurophysiologe und Philosoph HUMBERTO MATURANA vorgelegt. Sein Modell der Autopoiese (MATURANA 1982), das sich mit den bisher referierten Positionen in weiten Strecken stimmig verhält und noch ausführlich dargelegt werden soll, beschreibt die autonome Selbstorganisation und -erzeugung aus kognitionsbiologischer Sicht. Und an eben diesem Schnittpunkt zwischen Neurobiologie und Kognitionstheorie eröffnet sich eine neue Perspektive für die Psychopathologie der Schizophrenie:

Die vorliegende Untersuchung soll zeigen, wie die bisherigen Aporien der Schizophrenieforschung vermieden werden können und der konstruktivistische Ansatz in Gestalt von MATURANAs Theorie der Autopoiese für die Schizophrenieforschung fruchtbar gemacht werden kann, indem die wissenschaftstheoretischen Aussagen MATURANAS einer psychologischen Übersetzungsarbeit unterzogen werden, um Ansätze zu einer künftigen Metapsychologie der Schizophrenie zu liefern. Diese Arbeit verfolgt mithin vorrangig zwei Ziele:

  1. Die o.a. psychologische "Übersetzungsarbeit" soll keinem sprachlichen Etikettentausch gleichkommen, sondern vielmehr Bauelemente und Verbindungsstücke zu einem theoretischen Gerüst liefern, das die Grundlage eines metapsychologischen Beschreibungssystems bildet, mit dessen Hilfe eine wissenschaftslogische Brücke zwischen den Polen naturwissenschaftlicher Empirie und geisteswissenschaftlicher Hermeneutik geschlagen werden könnte.*6 Ein solches integratives Modell unter dem Vorzeichen der o.a. konstruktivistischen Prämissen hätte insofern handlungstheoretischen Charakter, als es schizophrene Menschen a priori nicht als Forschungsobjekte sehen würde, sondern schizophrene Zustandsbilder im Rahmen von Subjekt-Subjekt-Relationen erfaßt würden.
  2. Die vorliegende Arbeit soll die praktische Relevanz des konstruktivistischen Modells der Autopoiese aufzeigen. Es soll gezeigt werden, daß psychopathologische Zustandsbilder funktional neu verstanden werden können, indem schizophrene Zustandsbilder als Systemzustände beschrieben und nach dem Grad und Modus der Selbstreferenz beurteilt und funktional differenziert werden können. Eine solche Neu-Betrachtung kann, so wird zu zeigen sein, nicht nur heuristisch fruchtbar sein, sondern auch Anhaltspunkte für mögliche - entsprechend dem vorgestellten integrativen Ansatz: multimodale - Interventionen und deren differentielle Indikation liefern.

Im folgenden konzentriert sich diese Arbeit auf intrasystemische Aspekte im Bereich der schizophrenen Selbst-Demarkation. Dieser Bereich wurde gewählt, weil die Herausbildung eines abgegrenzten Selbst kardinales Merkmal subjektiv erlebter Individualität und bedeutendes Element im Prozeß der Realitätsaneignung bzw. -konstruktion ist; gleichfalls handelt es sich bei entsprechenden Normabweichungen um ein Leitsymptom auch klassischer Psychopathologie schizophrener Störungsbilder. Die Konkretion des Modells der Autopoiese von MATURANA für den Bereich schizophrener Selbst-Demarkation vollzieht sich dabei in drei Schritten.

Zuerst wird der gegenwärtige Forschungsstand zum Problem der schizophrenen Selbst-Demarkation dargestellt, wobei zunächst der Stellenwert des Phänomens, anhand empirischer Arbeiten und international anerkannter Diagnose-Kriterien (ICD, DSM), in bezug auf die Definition der Schizophrenie aufgezeigt werden soll. Das Phänomen der Selbst-Demarkation bei schizophrenen Menschen wird dann unter Heranziehung des eher deskriptiv orientierten Modells der Ich-Psychopathologie von SCHARFETTER (1985, 1986) beschrieben. Anschließend soll die Selbst-Demarkation im Rahmen zweier gegenwärtig dominierender Schizophrenie-Konzepte dargestellt werden, die beide einer kritischen Reflexion unterzogen werden: dem Konzept der Basisstörungen von HUBER (1983) - modifiziert durch BRENNER (BRENNER et al. 1988) -, das schizophrene "End- und Überbauphänomene" letztlich auf grundlegende neurochemische Dysfunktionen zurückführt, die Informationsverarbeitungsstörungen bedingen; und dem Modell der Affektlogik von CIOMPI (1982), auf das bereits oben eingegangen wurde.

In einem weiteren Schritt soll die Wissenschaftstheorie H. MATURANAs erläutert und diskutiert werden. Drei grundlegende Bereiche werden dabei berücksichtigt:

Die erkenntnistheoretischen Konsequenzen des Modells werden daran anschließend erörtert, wobei zum einen die Rolle der Kognition für die Erzeugung von Realität herausgestellt wird. Zum anderen sollen verschiedene in der Literatur immer wieder auftauchende Interpretationen der Philosophie MATURANAs (als idealistisch, biologistisch, atomistisch, ahistorisch und/oder solipsistisch) auf ihre Gültigkeit hin untersucht werden.

In einem dritten Schritt wird versucht, das Problem schizophrener Selbst-Demarkation in das wissenschaftstheoretische Konzept MATURANAs zu übersetzen. Hierzu soll zunächst dargelegt werden, inwieweit konstruktivistische Ansätze bereits Einfluß auf die Schizophrenieforschung gewonnen haben. Nach diesem Überblick wird untersucht, welche Zusammenhänge die Philosophie MATURANAs mit der genetischen Epistemologie PIAGETs aufweist, da dieses Konzept eine wichtige Grundlage des integrativen Schizophrenie-Modells von CIOMPI darstellt, zumal bei PIAGET kognitive und biologische Momente ähnlich verschränkt sind wie bei MATURANA.

In zwei Teilschritten wird anschließend versucht, MATURANAs Theorie auf den schizophrenen Formenkreis - exemplarisch eingeengt auf das Phänomen schizophrener Selbst-Demarkation - anzuwenden. Als Referenzmodell wird das o.a. Modell der Affektlogik herangezogen, da a) dieses Modell gegenwärtig ein in der "scientific community" breit akzeptiertes und dominierendes ist und es b) eine Vielzahl theoretischer Zugänge und empirischer Ergebnisse relativ kohärent integriert. In einem ersten Teilschritt werden somit Schlüsselbegriffe CIOMPIs und MATURANAs (Selbst, Schema/Struktur, Äquilibration/Homöostase, Kommunikation und Repräsentation, Lernen) einander gegenübergestellt und so Strukturelemente der beiden Theorien hinsichtlich ihrer Ähnlichkeiten und Differenzen ausgeleuchtet.

In einem zweiten Teilschritt sollen dann kardinale Symptome resp. Merkmale schizophrener Selbst-Demarkation in das Modell MATURANAs "übersetzt" werden. Vier Aspekte werden dabei untersucht:

Abschließend soll kritisch reflektiert werden, unter welchen Bedingungen und auf welche Weise eine im Sinne MATURANAs veränderte Perspektive der Schizophrenie handlungsregulierend für die Schizophrenieforschung und praktisch relevant für den therapeutischen Umgang mit schizophrenen Patienten sein kann. Besonderen Stellenwert erhält dabei die Diskussion des Verhältnisses von psychopharmakologischer und psychotherapeutischer Intervention.

"Übersetzen" ist ein kreativer Prozeß. Vor allem deshalb - und nicht nur, weil MATURANA sich nicht über das Problem schizophrener Störungen äußert - kann die vorliegende Arbeit kein sklavisch lexikalischer Umbenennungsprozeß sein. Wenn in ihrem Titel von der "Perspektive der Philosophie Humberto Maturanas" die Rede ist, so ist damit eben vordringlich die Richtung des ihr zugrunde liegenden Denkens angegeben, aus der heraus versucht wird, schizophrene Phänomene kognitionsbiologisch zu fassen.

Die vorliegende Arbeit ist klinisch-psychologisch, speziell pathopsychologisch orientiert. Der Begriff der Pathopsychologie impliziert ein Verständnis normabweichender Phänomene, das die Kontinuität zwischen den Polen "Norm" und "Abweichung" im Blick hat. Dieses Verständnis legt es nahe, auch als "pathologisch" klassifizierte Symptome vor dem Hintergrund allgemeinpsychologischer Fragestellungen zu betrachten. Der Begriff der Psychopathologie hingegen ist medizinischen Ursprungs und fokussiert die qualitative Andersartigkeit der Abweichung, deren Charakteristika nach phänomenalen Gemeinsamkeiten zusammengefaßt werden. Um der wissenschaftlichen Redlichkeit willen wird dieser Begriff im folgenden immer dann verwendet werden, wenn er im Kontext psychiatrischer Forschung oder Theoriebildung steht, die sich explizit der Psychopathologie verpflichtet fühlt.

BENEDETTI (1983) hat im Zusammenhang mit der Schizophrenie von den "Todeslandschaften der Seele" gesprochen. Wenn die Autopoiese das Grundprinzip lebender Systeme ist und wir dieses Prinzip auch auf das weite Feld der schizophrenen Störungen anwenden, so dürfen wir vielleicht die Hoffnung wagen, jenen "Todeslandschaften" ein Stück Lebendigkeit zuzutragen - und sei es zunächst auch nur in unserem Denken.


Fußnoten:

1 Die wichtigsten Protagonisten dieser Diskussion, wie etwa SZASZ oder BASAGLIA, waren selbst Psychiater, ihre Argumentation war meist ideologiekritisch-soziologisch, z.T. auch psychoanalytisch bestimmt.

2 So bezieht sich z.B. das "Integrierte Psychologische Therapieprogramm" von BRENNER et al. (1988) auf experimentalpsychologische Forschungen. Viele Interventionsansätze, auch solche, die sich vorrangig auf das soziale Umfeld beziehen wie etwa die Arbeit von FIEDLER et al. (1986) zur Angehörigenarbeit, entstehen dabei aus psychologisch-psychiatrischer Kooperation (was grundsätzlich sicher zu begrüßen ist, die Eröffnung metatheoretischer "Verständigungsbrücken" zwischen den Nachbardisziplinen aber m. E. um so erforderlicher macht).

3 Autopoiese wird hier verstanden als Prozeß ständiger Selbsterzeugung und -reproduktion, der allem Lebendigen inhärent ist (MATURANA und VARELA 1987).

4 Empirische Evidenz für die These, daß der Forscher bzw. Diagnostiker psychopathologische Phänomene mitproduziert, liefert u.a. die Studie von ROSENHAN (1985). Die Rolle normativer Setzungen für die Konstitution von Realität wurde bisher in theoretisch differenzierter Form von der philosophischen Schule um MITTELSTRASS (1975) diskutiert.

5 Die Studie von SARBIN & MANCUSO (1982), die ihren Ansatz als "kontextualistisch" verstehen, liefert hier Berührungspunkte, wenngleich auch nicht unter konstruktivistischem Vorzeichen.

6 BROCHER & SIES (1986) haben mit ähnlichen Intentionen versucht, Neurobiologie und Psychoanalyse zu einem integrativen Konzept zusammenzufassen, um so "Verständigungsmöglichkeiten mit Nachbarwissenschaften herbeiführen" zu können (p. 19).


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