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Hansmeier: Hypermediale Programme
Seit Beginn der achtziger Jahre wird über die Möglichkeiten, die Wünschbarkeit, die Grenzen und Gefahren von Verstehensprozessen, die auf das Fremde (6) gerichtet sind, diskutiert.(7) Die Darstellungen, die das Verstehen des Fremden in Frage stellen, argumentieren, daß Verstehen nicht die Überwindung des Ethnozentrismus bedeute, sondern die Subsumierung des Fremden darstelle. Das Fremde kann nicht in seiner Eigenständigkeit wahrgenommem werden, da das Verstehen immer an die Konzepte und Kategorien des Verstehenden gebunden ist.
Aus hermeneutischer Erkenntnis läßt sich Fremdes jedoch partiell verstehen. Das Verstehen des Fremden erwächst aus dem wechselseitigen Prozeß von Assimilation und Akkommodation,(8) und die Prämisse für jedes Fremdverstehen ist das Hinterfragen des eigenen Vorverständnisses.
Im folgenden werden die zentralen Argumente dieser Debatte um das Fremde skizziert und es wird der Frage nachgegangen, wie ein Verstehensprozeß aussehen muß, in dem ausgehend vom Eigenen das Fremde verständlich gemacht wird,(9) oder wie Hans-Herbert Kögler es ausdrückt:
"Wie kann das eigene Vorverständnis so eingeführt und investiert werden, daß es gleichsam zu einer eigenen Entwurzelung (als implizites Wissen) und partiellen Destruktion (als umfassender Hintergrund) beiträgt" (Kögler 1992: 169).
In dem Abriß der Theoriegeschichte der Interkulturalität, den Peter Brenner (1991)gibt, zeigt sich, daß Fremdverstehen in der Vergangenheit zwar als möglich angesehen wurde, aber auf Subsumierung beruhte. Die neuere Theoriediskussion zweifelt dagegen an der Möglichkeit des Fremdverstehens, von der sich Brenner abgrenzt, da für ihn Fremdverstehen unter der Voraus-setzung möglich ist, daß sich der Verstehende seiner Vorurteilsstruktur bewußt ist und diese reflektiert (Brenner 1991: 52).
Edward Said, der sich in seinem Buch Orientalism mit der Problematik des Verstehens auseinandersetzt, sieht in den wissenschaftlichen Bemühungen der Orientalisten, den Orient zu verstehen, nicht die Intention, diesen zu verste-hen, um von ihm zu lernen, sondern den Willen zur Macht: "[...] in short, Orientalism is a Western style of dominating, restructuring, and having auth-ority over the Orient" (Said 1978: 3). Die Auseinandersetzung der Wissen-schaftler mit dem Orient und das Verstehenwollen wird zum bewußten und unbewußten Ausdruck des Ethnozentrismus, da sie in ihrer jeweiligen Kultur und Gesellschaft gefangen sind und daher den Orient nicht so wahrnehmen können, wie er eigentlich ist:
"For if it is true that no production of knowledge in the human sciences can ever ignore or disclaim its authors involvement as a human subject in his own circumstances, then it must also be true that for a European or American studying the Orient there can be no disclaiming the main circumstances of his actuality. That he comes up against the Orient as a European or American first, as an individual second" (Said 1978: 11).
Trotz der kulturellen und sprachlichen Befangenheit der westlichen Wissenschaftler, die in ihren Berichten zum Ausdruck kommen (Said 1978: 272), hält Edward Said ein Verstehen des Fremden für möglich, wenn wir unser Vorwissen in Frage stellen.
"On the other hand, scholars and critics who are trained in the traditional Orientalist disciplines are perfectly capable of freeing themselves from the ideological straitjacket [...]. For if Orientalism has historically been too smug, too insulated, too positivistically confident in its ways and premises, then one way of opening oneself to what one studies in or about the Orient is reflexively to submit ones method for critical scrutiny" (Said 1978: 326-327).
Julia Kristeva, die sich aus psychoanalytischer Perspektive dem Fremdverstehen nähert, analysiert in ihrem Buch Fremde sind wir uns selbst die Geschichte des Fremden im Abendland. Sie sieht in der Akzeptanz und der Hinwendung zu unserer Entfremdung und Gespaltenheit die Lösung für ein Zusammenleben in multikulturellen Gesellschaften.
"Eine paradoxe Gemeinschaft ist im Entstehen, eine Gemeinschaft von Fremden, die einander in dem Maße akzeptieren, wie sie sich selbst als Fremde anerkennen. Die multinationale Gesellschaft wäre somit das Resultat eines extremen Individualismus, der sich aber seiner Schwierigkeiten und Grenzen bewußt ist - der nur Irreduzible kennt, die bereit sind, sich wechselseitig in ihrer Schwäche zu helfen, deren anderer Name unsere radikale Fremdheit ist" (Kristeva 190: 213).
Obwohl das Erfahren der eigenen Fremdheit ein wesentliches Moment in dem Prozeß des Verstehens des Anderen ist, reicht dieses jedoch als gene-reller Lösungsvorschlag für das Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft nicht aus.(10)
Wie Julia Kristeva umgeht auch Hans Hunfeld das Verstehen des Fremden. Hans Hunfeld setzt sich aus fremdsprachendidaktischer Perspektive mit dem Fremdverstehen auseinander. Er entwickelt eine skeptische Herme-neutik und fordert in seinem Artikel "Zur Normalität des Fremden", daß das Fremde bewußt als fremd stehengelassen wird. Das Fremde soll weder als exotisch gesehen noch idealisiert werden oder als minderwertig betrachtet werden und vor allem nicht aus der Perspektive des eigenen Weltbildes bestimmt werden (Hunfeld 1992:16), um der Gefahr der Vereinnahmung und Aneignung des Fremden unter das Eigene entgegenzuwirken. Sein Ziel ist die Anerkennung der unüberbrückbaren Differenz zwischen Eigenem und Fremden.
"Diese Differenz zu bewahren, ist schon deshalb nötig, weil der Verdacht besteht, das Fremde gelte im Grunde dann als verstanden, wenn es in die vertrauten Kategorien des Eigenen übersetzt sei " (Hunfeld 1991: 50).
Er sieht nicht im gegenseitigen Verstehen, sondern in der Erziehung zur Anerkennung und Erhaltung der Rätselhaftigkeit sowie in der Distanz zum Eigenen die einzige Möglichkeit eines Zusammenlebens in einer multi-kulturellen Gesellschaft.
"Die Anerkennung aber der Rätselhaftigkeit des Fremden führt zur Toleranz ihm gegenüber: sie gründet nicht auf vergeblichem Verstehen, sondern auf die Einsicht in Andersartigkeit als notwendiges Korrektiv des eigenen Vorurteils. Das Fremde ist also Ergänzung und Kontrolle des Eigenen" (Hunfeld 1992: 16).
Alois Wierlacher postuliert ein Verstehenskonzept, das wie bei Hunfeld auf der Akzeptanz des Fremden und der Distanz zum Eigenen beruht. In seinem Aufsatz "Mit anderen Augen oder: Fremdheit als Ferment" wirft er den herme-neutischen Ansätzen Gadamers und Bubners vor, daß sie "das kulturelle Fremde letztlich nicht in seiner Fremdheit nehmen [...], sondern im Fremden das Eigene aufsuchen [...]" (Wierlacher 1985: 10), als Ausdruck einer imperia-listischen und kolonialistischen Haltung:
"Eine solche Zugriffsposition kann und darf nicht unsere Ausgangsbasis sein. In höchst bedenklichem Maße tradiert sie Denkmuster europäischen Kolonialverhaltens [...]" (Wierlacher 1985: 11).
In dem Buch Die Eroberung Amerikas. Das Problem des Anderen setzt sich auch der Autor Tzvetan Todorov mit dem Verstehen des Fremden auseinander. Er erzählt die Geschichte der Wahrnehmung der Indianer durch die Spanier im ersten Jahrhundert nach der ersten Reise von Christoph Kolumbus. Die unterschiedlichen Verstehensformen des Fremden exempli-fiziert er an Las Casas und Cortés.
Las Casas, der als Christ die Indianer liebt, unterstützt sie und will ihnen kein Unrecht tun. Ihm erscheint die indianische Bevölkerung religiöser als es die Christen sind. Seine Liebe ist jedoch assimilatorisch, da er die indianische Bevölkerung nicht versteht; er ignoriert ihre Verschiedenheit und projiziert seine Ideale auf sie (Todorov 1985: 202). Cortés versucht, die Indianer zu ver-stehen und setzt sein Wissen instrumentell ein: "Es ergibt sich so eine erschreckende Verkettung, die vom Verstehen zum Nehmen, vom Nehmen zum Zerstören führt, eine Verkettung, deren unabwendbaren Charakter man gerne in Frage stellen möchte" (Todorov 1985:155).
Für Todorov ist das Verstehen des Fremden prinzipiell möglich, wenn es sowohl als verschieden als auch als gleichwertig anerkannt wird. Todorov sieht das Ziel nicht in der Anerkennung der Kluft zwischen dem Fremden und Eigenen, sondern in dem Dialog mit dem Fremden. Existieren diese Voraus-setzungen nicht, wird das Verstehen zum Ausdruck von Macht und Ethno-zentrismus.
"Bestenfalls sagen die spanischen Autoren Gutes über die Indianer, doch abgesehen von einigen Ausnahmen sprechen sie nie mit den Indianern. Doch nur wenn ich mit dem anderen spreche (nicht wenn ich ihm Befehle erteile, sondern wenn ich einen Dialog mit ihm aufnehme), erkenne ich ihm die Qualität eines Subjekts zu, das mir selbst als Subjekt vergleichbar ist (Todorov 1985: 160).(11)
Ausgehend von den verschiedenen Umgangsformen, die Las Casas und Cortés mit der indianischen Bevölkerung praktizieren, unterscheidet Todorov drei Dimensionen von Alterität:
"Auf der ersten Ebene haben wir das Werturteil (eine axiologische Ebene): Der andere ist gut oder böse, ich liebe ihn oder ich liebe ihn nicht, oder, wie man damals eher sagte, er ist mir ebenbürtig oder er ist mir untergeordnet [...]. Auf der zweiten haben wir die aktive Annäherung an den anderen, bzw. die Distanzierung von ihm (eine praxeologische Ebene): Ich übernehme die Werte des anderen, ich identifiziere mich mit ihm; oder aber ich assimiliere den anderen, ich zwinge ihm mein eigenes Bild auf; zwischen der Unterwerfung unter den anderen und unter der Unterwerfung des anderen gibt es auch einen dritten Term, nämlich die Neutralität oder Indifferenz. Drittens kann ich die Identität des anderen kennen oder nicht kennen (das wäre die epistemologische Ebene); hier handelt es sich natürlich nicht um etwas Absolutes, sondern um eine unendliche Reihe von Abstufungen zwischen niedrigeren und höheren Graden des Kennens" (Todorov 1985: 221).
Zwischen diesen von Todorov dargestellten Typologien der Beziehungen zu dem Anderen bestehen "zwar Relationen und Affinitäten, aber es gibt keine strenge Implikation; man kann also keine auf eine andere reduzieren und auch keine von der anderen her vorausberechnen" (Todorov 1985: 221). Das Verstehen bedeutet auch nicht, daß der Andere als gleich-wertiges Subjekt anerkannt wird, da sich Las Casas und Cortés "in der gemein-samen Assimilationspolitik" wieder zusammenfinden.
Als Vertreter der neueren Hermeneutik vergleicht Hans Georg Gadamer den Prozeß des Verstehens mit dem des Übersetzens (Gadamer 1972: 365) und sieht in dem Vorverständnis des Verstehenden, das er in den Dialog mit dem Fremden einbringt, die Voraussetzung, die Verstehen erst ermöglicht.
"Wir wissen ja, daß die hermeneutische Erfahrung immer einschließt, daß der zu verstehende Text in eine Situation hereinredet, die durch Vormeinung bestimmt ist. Das ist keine bedauerliche Einstellung, die die Reinheit des Verstehens beeinträchtigt, sondern die Bedingung seiner Möglichkeit, die wir als hermeneutische Situation charakterisiert hatten. Nur weil der Text aus seiner Fremdheit ins Angeeignete versetzt werden muß, ist für den Verstehenwollenden überhaupt etwas zu sagen" (Gadamer 1972: 365).
In dem Aufsatz "Hermeneutik und Ethnologie", in dem Rüdiger Bubner sich der Frage stellt, warum wir uns einer anderen Kultur zuwenden, nennt er als Motiv die Unzufriedenheit mit der eigenen Kultur und das Lernenwollen von der fremden Kultur. Für ihn wird Fremdverstehen erst dadurch möglich, daß das als fremd empfundene auf die eigenen Werte und Konzepte bezogen wird; das Unverständliche "sich in Ähnlichkeiten auflöst, die ein Wieder-erkennen erlauben" (Bubner 1983: 190).
Bernhard Waldenfels analysiert in seinem Buch Der Stachel des Fremden drei unterschiedliche Formen der Aneignung des Fremden, um das als bedrohlich wirkende Fremdartige einzuschränken oder auszuschließen (Waldenfels 1990: 60). Waldenfels nennt diese Formen der Aneignung Ego-zentrik, Logozentrik und Ethnozentrik. Die Egozentrik subsumiert das Fremde unter das Eigene: "Fremdes wird bewältigt, indem es am Eigenen gemessen wird" (Waldenfels 1990: 61). In der zweiten Form, der Logozentrik, wird das Fremde nicht auf das Eigene zurückgeführt, sondern auf einer höheren Stufe in das Eigene integriert. In der Ethnozentrik wird "[...] die eigene Lebensform nicht nur verteidigt, sondern schrankenlos verteidigt [...] als Vorhut einer uni-versalen Vernunft. Die Verteidigung mit Kreuz und Schwert, die sich gegen Hunnen, Türken und Tartaren, gegen Barbaren jeder Art richtete, stand stets im Dienste einer höheren Instanz (Waldenfels 1990: 62 ).
Waldenfels, der selbst ein hermeneutisches Verstehenskonzept vertritt, rückt die Dialektik von Frage und Antwort in den Mittelpunkt. Obwohl wir nicht ohne unser Vorverständnis verstehen können, muß dieses nicht zu einer Subsumierung des Fremden führen, da sich unser Vorwissen hinterfragen läßt.
"Im Zusammenspiel von Frage und Antwort stoßen wir nicht nur auf bloß Gegebenes, aus dem etwas zu machen ist, sondern auf Gegebenes, das uns auffordert, anregt, einlädt, auch abschreckt" (Waldenfels 1990: 64).
Auch Lothar Bredalla postuliert ein hermeneutisches Verstehenskonzept und unterstreicht den dynamischen Charakter von Verstehensprozessen. Er verwendet die Piagetschen Begriffe Assimilation und Akkommodation, um das dynamische Wechselspiel zwischen Fremdem und Eigenem, in dem sich Verstehen vollzieht, zu verdeutlichen:
"If we use the terms assimilation and accommodation for illuminating the process of understanding, we can say that we have to assimilate the unknown in order to relate it to the known. But during this process we will also have to accommodate our concepts" (Bredella 1992a: 585).(12)
Bredella führt als Nachweis für die dialektischen Prozesse des Verstehens die Ergebnisse dreier unterschiedlicher Disziplinen an. Die philoso-phische Erkenntnis sieht Verstehen als die Dialektik zwischen der objektiven und subjektiven Bedeutung. Jedes Verstehen setzt die objektive Bedeutung voraus, die es dem Verstehenden ermöglicht, die subjektive Bedeutung zu erschließen:
"We cannot understand the other in an unmediated way but instead need a system of signs, a language. [...] Thus Schleiermacher as well as Richert, Spranger, and Jaspers point out that understanding presupposes objective meanings which allow us to guess the subjective meanings. The dialectic between objective and subjective meanings can explain why the process of understanding even within ones own culture cannot be completed" (Bredella 1992b: 486).
Die anthropologische Perspektive unterscheidet innerhalb des Verstehens zwischen "understanding from within" und "understanding from without" (Madison 1982: 167). Beim innenperspektivischen Verstehen versucht der Verstehende die fremde Kultur mit den Augen der Angehörigen dieses Kulturkreises zu sehen. Das Verstehen aus der Außenperspektive bedeutet, daß das Fremde durch die Augen des Verstehenden wahrgenommen wird, d.h. das Fremde wird unter das Eigene subsumiert:
"Understanding another culture thus has two basically different meanings. On the one hand, it can mean understanding the other system in terms of ones own. Here the most that can be achieved is the widening of ones native world view, which is also to say that here the other is necessarily ingested into and reduced to the same. On the other hand, it can mean understanding the other as other - that is, acquiring a new habit, a new and different way of interpreting reality, which is so that here one exchanges one system for another. The situation is thus that of an either-or: either one remains within ones own cultural reality or one escapes from this reality, but only to be confined within another reality" (Madison 1982: 167-168).
Hier werden mit der Subsumierung des Fremden und dem Eintauchen in eine fremde Kultur zwei Extreme dargestellt, die zwar nicht zum Fremd-verstehen führen, aber ein besseres Verständnis der Lebenswelt ermöglichen. Die Einschränkungen, denen das interkulturelle Verstehen in beiden Formen unterliegt, können durch die Dialektik zwischen der Innen- und Außen-perspektive, die Bredella fordert, überwunden werden:
"According to Madison we must choose between remaining within our culture or being confined within another, but the process of understanding is much more dynamic than this alternative indicates. Even the anthropologist who explains witchcraft in psychological or social terms of his own culture cannot do this without accommodation, and the stranger who learns to adapt to the foreign culture is involved in a long dynamic process of assimilation and accommodation" (Bredella 1992b: 489-490).
Nach Bredella wird aus pädagogischer Perspektive Verstehen als Dialektik zwischen Assimilation und Akkommodation beschrieben. Assimi-lation bedeutet, daß das Verstehenssubjekt das Verstehensobjekt unter seine Konzepte subsumiert. Im akkommodativen Verstehen realisiert das Verstehens-subjekt, daß sein Vorverständnis nicht ausreicht, um das Fremde zu begreifen und daß es dieses differenzieren oder erweitern muß.
Die skizzierten verschiedenen Konzepte des Fremdverstehens verdeutlichen, daß die Kritiker des hermeneutischen Verstehensbegriffes im Verstehen die Subsumierung des Anderen unter das Eigene sehen und für die Distanz zum Eigenen und die Anerkennung des Fremden in seiner Rätsel- und Andersartigheit plädieren.
Das hermeneutische Verstehenskonzept definiert Fremdverstehen dagegen als einen dynamischen Prozeß, der über die Teilprozesse Assimilation und Akkommodation verläuft. Beim Verstehen des Fremden sind wir an unser Vorwissen gebunden; der Vereinnahmung des Fremden durch das Eigene wird jedoch in der Interaktion, im Dialog mit dem Fremden, entgegengewirkt, da wir in diesem Prozeß unser Vorverständnis kritisch reflektieren und hinterfragen. Dabei kommt es zu keiner strikten Trennung von Eigenem und Fremdem, sondern zu der Erkenntnis von Unterschieden und Überschneidungen und zu partiellem Verstehen oder wie es Bredella formuliert:
"Whenever we attempt to understand the foreign, we have to acknowledge that the history of intercultural relations as well as our concepts and values become part of it. But this insight does not have to lead to relativism but, on the contrary, is the presupposition for a dialogical situation in which something emerges that is contained in neither of the partners by himself. Therefore the methods for under-standing the foreign do not have to make the students forget their prior experiences, concepts and values but can acknowledge them. The success of understanding the foreign depends on the intensity of the interaction in which one´s concepts and values are clarified and put at risk at the encounter with those of the foreign culture" (Bredella 1992a: 594).
Der Begriff des Interkulturellen ist in den letzten Jahren zu einem Modewort geworden; Interkulturelles hat Konjunktur, und hinter diesem schillernden, inflationär gebrauchten Begriff versammeln sich verschiedene wissenschaftliche Fachrichtungen(13), Aktivitäten und Zielsetzungen.(14)
Seit Mitte der 80er Jahren ist auch ein zunehmendes Interesse in der Fremdsprachen- und Literaturdidaktik an einem interkulturell ausge-richteten Unterricht zu verzeichnen. Der Fremdsprachenunterricht scheint der ideale Ort für interkulturelles Lernen und Verstehen zu sein, da hier die eigene, die Muttersprache des Lerners(15), und die fremde Sprache aufein-andertreffen(16).
Dietrich Krusche sagt über Fremdsprache, daß sie
"immer vor dem Hintergrund eigener Sprache gelernt, Fremdkultur von der Position des Besitzes eigener Kultur aus gelernt [wird]. Weder fremde Sprache noch fremde Kultur treten der eigenen Sprache und der eigenen Kultur innerhalb eines rationalen Vergleichsrahmens gegenüber. Bei dem Lernen und Kennenlernen von fremder Kultur wird diese dem eigenen niemals wirklich vergleichbar. Vielmehr ist es so, daß fremde Sprache und Kultur von der Position des Besitzes des Eigenen aus begriffen und angeeignet werden. Diese Aneignung geschieht allmählich, schrittweise, unter beträchtlichen Spannungen im jeweiligen Lerner. Die Spannungen ergeben sich daraus, daß das jeweilige Fremde nicht nur neue Sprach- und Kulturmöglichkeiten eröffnet, sondern auch eine Infragestellung, ja Bedrohung eigener Sprach- und Kulturerfahrung bedeutet" (Krusche 1983: 365).
Der Lerner wird mit dem Fremden in Gestalt einer Person, die eine Fremdsprache spricht, konfrontiert, und muß mit ihr in Dialog treten, mit ihr interagieren, um sie verstehen zu können. Die aufeinandertreffenden Kommunikationspartner können in dem anvisierten Dialog auf Grund ihrer unterschiedlichen kulturellen Zugehörigkeiten Verstehensschwierigkeiten haben. Der Lerner kann dem zu Folge eine fremde Sprache nicht lernen, ohne auf die Kultur, in die die Sprache eingebettet ist, Bezug zu nehmen und muß somit die Sprache als Ausdruck der fremden Kultur wahrnehmen.(17) Dieses Inklusionsverhältnis zwischen Sprache und Kultur führt zu einer unvermeid-lichen, unbedingten Vermittlung von Sprache und der in ihren Audrucksformen mittransportierten kulturellen Inhalte, Bedeutungen oder, wie Claire Kramsch es formuliert:
"Culture in language learning is not an expandable fifth skill, tacked on, so to speak to the listening, reading and writing. It is always in the background, right from day one, ready to unsettle the good language learners when they expect it least, making evident the limitations of their won communicative competence, challenging their ability to make sense of the world around them" (Kramsch 1993: 1).(18)
Durch die Einbettung von Sprache in Kultur rückt das Konzept Kultur und die Kategorie der Fremdheit,(19) die sich auf die Zielsprache und die dazugehörende Kultur bezieht, in den Mittelpunkt des Unterrichts, wobei anzumerken ist, daß Kultur in ihrer Totalität nicht vermittelbar ist.(20)
Der Begriff Kultur wird hier nicht objektivistisch verstanden, da dieses bedeuten würde, daß sich Landeskunde auf die Vermittlung von fest-stehendem Wissen über die Kultur beschränken würde, und dies führt, wie Inge C. Schwerdtfeger im folgendem beschreibt, dazu
"[...] daß zwei Kulturen wie monolithische Blöcke aufeinander zugehen. Oder, um ein Bild zu gebrauchen, die Inhalte des Landeskundeunterrichts wirken wie in Acryl eingeschmolzene Kuriosa, bei denen man zwar den Kunststoff anfassen kann, nie, aber auch nie die Gelegenheit findet, selbst wenn die Würfel herunterfallen, zu der eigentlichen Sache vorzustoßen" (Schwerdtfeger 1992: 362).
Der Lerner trifft in einer realen Situation jedoch auf Personen mit eigener Biographie. Er ist in dieser Situation aktiv und kreativ an der Sinnschaffung, der Interpretation des Gesagten beteiligt. Die unterschiedlichen Identitäten, die der Kommunikationspartner des Lerners innehat, wie z.B. seine soziale, geschlechts-, berufsspezifische und altersabhängige, müssen von dem Lerner wahrgenommen und decodiert werden. Er kann sein Gegenüber und seine Wahrnehmung nicht auf das beschränken, was er über die in seinem Kulturkreis üblichen Sitten, Gebräuche und Angewohnheiten gelernt oder gehört hat. Daher basiert der hier verwendete Kulturbegriff,(21) der sich kategorial von dem objektivistischen unterscheidet, auf dem semiotischen Kulturkonzept von Clifford Geertz, in dem der Prozeß der Sinnkonstituierung in das Zentrum gerückt ist, d.h. das Individum mit seinen Fähigkeiten, die Welt kognitiv und emotional zu deuten, steht im Mittelpunkt:
"Ich meine mit Max Weber, daß der Mensch ein Wesen ist, das in selbstgesponnene Bedeutungsgewebe verstrickt ist, wobei ich Kultur als dieses Gewebe ansehe. Ihre Untersuchung ist daher keine experimentelle Wissenschaft, die nach Gesetzen sucht, sondern eine interpretierende, die nach Bedeutungen sucht. Mir geht es um Erläuterungen, um das Deuten gesellschaftlicher Ausdrucksformen, die zunächst rätselhaft scheinen" (Geertz 1983: 9).
Wie sehen die Konzequenzen für einen interkulturellen Ansatz für den Fremdsprachenunterricht aus? Wie heißen nun die primären Lernziele des interkulturellen Lernens im Fremdsprachenunterricht, und wie beeinflussen diese die Lerninhalte und die Lehrmaterialien? Wie können die an einen inter-kulturell ausgerichteten Fremdsprachenunterricht gestellten Forderungen prak-tisch umgesetzt werden?
Herbert Christ beschreibt interkulturelles Lernen wie folgt:
"Es findet im Zusammentreffen von Lernern, Lernpartnern und Lerngegenständen statt. Es beschäftigt sich mit dem als fremd Empfundenen, Erfahrenen, Erkannten und hat zum Ziel, mit diesem Fremden vertraut zu werden, bzw. vertraut zu machen. Das Vertrautwerden ist ein Prozeß, der vielfach oder gar im allgemeinen nicht abgeschlossen werden kann; er hat nicht etwa das Ziel, das Fremde als solches aufzuheben - sondern, es soll in ein anderes Verhältnis zum Bekannten und bereits Gewußten gebracht werden" (Christ 1994: 33).
Claire Kramsch sieht in der Entwicklung einer "culture of a third kind" das Ziel des interkulturellen Lernens.(22) In den ABCD-Thesen zur Rolle der Landeskunde im Fremdsprachenunterricht von 1989 wird als primäres Ziel die "Sensibilisierung sowie die Entwicklung von Fähigkeiten, Strategien und Fertigkeiten im Umgang mit fremden Kulturen" genannt. "Damit sollen fremd-kulturelle Erscheinungen besser eingeschätzt, relativiert werden und in Bezug zur eigenen Realität gestellt werden" (ABCD-These Nr. 4).(23) Michael Byram sieht in der Fähigkeit der Lerner, die eigene und die fremde Perspektive zu erkennen und die andere Kultur mit den Augen seiner Angehörigen zu sehen, was zu einem Perspektivenwechsel führt, wichtige Ziele eines interkulturellen Lernens:
"What is an issue here is the modification of monocultural awareness. From being ethnocentric and aware only of cultural phenomena as seen from their existing viewpoint, learners are to acquire an intercultural awareness which recognizes that such phenomena can be seen from a different perspective, from within a different culture and ethnic identity" (Byram 1991: 19).
In den seltensten Fällen kommt es jedoch zu einem direkten Kontakt der Lernenden mit der fremden Welt und den Angehörigen des Zielsprachen-landes, sondern die Kommunikation mit der fremden Kultur und Sprache wird über die im Unterricht eingesetzten Materialien und über die Person des Lehrenden hergestellt. Damit kommt der Auswahl und der Zusammenstellung der Materialien eine Schlüsselfunktion zu.(24) Die den Lernenden präsentierten Unterrichtsmaterialien müssen bei ihnen ein Bewußtsein und eine Sensi-bilisierung für die Vielfalt und Differenziertheit der in dem Zielsprachenland existierendenden Perspektiven auf ein Phänomen schaffen und die Lebendigkeit der betreffenden Gesellschaft spiegeln. Die Materialien müssen intrakulturelle Differenzen und historischen Wandel miteinbeziehen und dürfen auf keinen Fall die Unterschiede in der eigenen Kultur nivellieren oder im Verhältnis zu der fremden Kultur stilisieren. Eine kulturelle Reduktion, sprich Genera-lisierung führt unvermeidlich zu einer Produktion von Stereotypen und einem Verstärken schon vorhandener Klischeevorstellungen.(25) Zudem müssen die Unterrichtsmaterialien offen angelegt sein, sie müssen den Lernenden Raum für persönliche Deutungen der gezeigten Wirklichkeit lassen. Der den Lernenden präsentierte Ausschnitt aus der fremden Gesellschaft wird von ihnen keineswegs neutral und unvoreingenommen interpretiert und verstanden, sondern durch ihre eigenkulturell geprägte Brille betrachtet. Claire Kramsch bezeichnet dieses In-Beziehung-Setzen zur eigenen mit der fremden Kultur, das Reflektieren und das Erkennen der Relativität von Bedeutungen als "sphere of interculturality" (Kramsch 1993: 205).
In dem Wechselspiel der verschiedenen Materialien, die dem Lerner differente Zugänge (sachliche, subjektiv-positionelle, emotional ansprechende, wissensvermittelnde) zu einem Ausschnitt der anderen Kultur anbieten, reali-siert er Widersprüche und Kontroversen, die die fremde Kultur in sich versteckt und ihren ständigen Wandel.
Das Aufzeigen der existierenden Perspektivenvielfalt führt den Lerner in eine komplexe fremde Realität, und diese fordert ihn zu Überle-gungen heraus. Bei dem Lernenden entstehen auf seiner Entdeckungsreise in die fremde Kultur Fragen nach den Gründen für die Unterschiedlichkeit. Handelt es sich dabei um individuelle, kollektive oder an eine Kulturgemein-schaft gebundene Werte?(26)
Die von dem Lerner realisierte Perspektivenvielfalt ermöglicht zudem den reflektierten Rückgriff auf das Eigene und das Nachdenken und Reden über dieses. Die emotionale und mentale Auseinandersetzung mit der eigenen Kultur muß in die Unterrichtsgestaltung bewußt einbezogen werden, wobei es sich dabei nicht auf die banale kontrastierende Frage: "Und wie ist es bei Ihnen?" beschränken darf (27).
Der Lerner erweitert sein Wissen über das als fremd empfun-dene, revidiert und bereichert sein Vorverständnis und differenziert so seinen Erfahrungs- und Verstehenshorizont. Er erfährt die Zuschreibung fremd als relative und wandelbare Größe in dem Prozeß des Lernens. In der Annäherung an die neue Kultur, dem Vertrautwerden mit dem von uns als fremd dekla-rierten, nimmt der Lernende die fremde Realität als etwas Konstruiertes und somit Ergänzbares, Vorläufiges und Dynamisches wahr und nicht als etwas Statisches und Endgültiges.
Interkulturelles Lernen ist ein Prozeß, der nie abgeschlossen ist, dessen Verlauf nicht durch einen reinen Informationsgewinn charakterisiert wird, d.h. sich nicht auf die Vermittlung von feststehendem, vorstrukturiertem und objektiviertem Wissen über die Anderen beschränkt, sondern zu einer aktiven und kreativen Mitarbeit seitens der Lernenden und Lehrenden aufruft. Dieser Vorgang resultiert in einer Einstellungsveränderung, einem neuen Standpunkt und der Entwicklung von Strategien und Fähigkeiten, mit denen der Fremdsprachenlerner sich Fremdem nähern und sich dieses erschließen kann. Um die Begriffe Piagets noch einmal aufzunehmen, in jedem Lernprozeß finden Assimilationsprozesse, aber auch ständige Akkomodationsprozesse statt.
Ausgehend von dem hermeneutischen Verstehenskonzept und den im Diskurs über das interkulturelle Lernen im Fremdsprachenunterricht genannten Zielsetzungen, stelle ich die Behauptung auf, daß ein hypermediales Lern-programm in einem Fremdsprachenunterricht, der keine reine Fertigkeits- und Wissensvermittlung sein soll, sondern Verstehensunterricht, durch sein Potential das interkulturelle Lernen unterstützen kann.
Ein- und ausschlüpfen
in Sprachen, aus Sprachen.
Pendelfahrt zwischen den
Welten.
(Jean Apatride 1982: 23)
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