Mikrokosmos = Parvus mundus.
Embleme, graviert von Gèrard de Jode, mit begleitenden Versen von Laurentius Haechtanus [Haecht Goidtsenhoven, Laurens van].
- Antwerpen: de Jode, 1579. - [157] S.; Titelill., 74 Embleme. 4° - Mit handschriftl. Übers. ins Franz.
Mit ihrem "Mikrokosmos" haben Gerard de Jode (geb. 1509 oder 1517 in Nimwegen, gest. 1591 in Antwerpen, bekannter Kupferstecher, Kartograph und Verleger) und Laurentius van Goidtsenhoven (Laurentius Haechtanus, geb. 1527 in Mecheln, gest. 1603 in Antwerpen, Verfasser einer Geschichte des Herzogtums Brabant) ein ebenso erbauliches wie unterhaltsames Werk geschaffen. Sie nutzen die Struktur des Emblems, also die regelmäßige Abfolge von Überschrift (inscriptio, lemma, motto), Bild (pictura, icon, imago, symbolum), Epigramm und - in der erweiterten Form der Gattung - Erläuterung, um Lebensweisheiten anschaulich zu vermitteln. Dabei beziehen sie neben Sinnbildern (z.B. Nr. 8), wie sie für die emblematische Gattung typisch sind, auch mythologische und historische Exempla (z.B. Nr. 3, Nr. 52), Anekdoten (z.B. Nr. 33), Apophthegmata (pointierte Aussprüche, z.B. Nr. 24) und Sprichwörter (z.B. Nr. 42) ein. Jedes Emblem findet innerhalb desselben Layout-Schemas auf zwei einander gegenüberliegenden Seiten Platz, was die Anschauung begünstigt, den Autor aber zur Anpassung an den vorgegebenen Rahmen zwingt. Thema ist zumeist das sittliche Verhalten des Einzelnen, doch werden auch politische, religiöse und ästhetische Fragen illustriert.
Das Werk ist dem Regenten der Niederlande, Matthias von Habsburg (1557-1619, Kaiser 1612-1619), gewidmet. Damit ist der katholische Standpunkt der Autoren ebenso angezeigt wie das Publikum, das sie im Auge haben, nämlich die humanistisch gebildeten Angehörigen der gesellschaftlichen Elite. Die Bibelzitate, die den überwiegend aus der heidnischen Antike entnommenen Motiven unterlegt werden, überblenden die natürliche Weisheit der Philosophie der Alten mit dem Licht der geoffenbarten Religion. Beide Quellen der Erkenntnis, so betont der Autor in seinem Vorwort an den Leser, haben ihren Ursprung in Gott.
Die Erläuterungen umfassen jeweils 8 bis 16 Verse, überwiegend in der Form des elegischen Distichons. Der knappe Raum, so der Autor, habe ihn manchmal daran gehindert, den Gedanken klar zu entwickeln; auch mit dem Mangel an Zeit möge der Leser die eine oder andere Unvollkommenheit entschuldigen. In der Tat zeigen seine Verse Spuren der Flüchtigkeit sowohl in der inhaltlichen Konzeption als auch in der Formulierung. Von den zahlreichen Druckfehlern scheinen nicht wenige auf die Vorlage des Verfassers selbst zurückzugehen (so z. B. Bl. A 1 r. Z. 14 maioris statt minoris). Wir haben in der Inhaltsübersicht einige der Druckfehler korrigiert, ohne eine vollständige Emendation anzustreben.
Trotz seines kompilatorischen Charakters hat das Werk den Reiz der Frische. Eine gewandte, an den besten Vorbildern (Vergil, Ovid) geschulte Versifikation verbindet sich mit gedanklicher Improvisation, die auch Abschweifungen und Unstimmigkeiten nicht scheut. Text und Bild sind aufeinander abgestimmt; der Künstler und der Autor haben offenbar aufs engste zusammengearbeitet. Die im Nachwort Ad Lectorem in Aussicht gestellte Fortsetzung ist offenbar nie realisiert worden. Doch gab es mehrere Neuausgaben (Antwerpen: Jan Keerbergen, 1592; Arnheim: Johannes Jansonius und Theodor Petri, 1609 [?]; Frankfurt a.M., 1618; Frankfurt a.M.: Jakob de Zetter, 1644; Frankfurt a.M.: Fievet, 1670, bearb. v. Martin Meyer), die bezeugen, daß Kupferstecher und Verfasser den Geschmack des Publikums getroffen hatten. In den modernen Reprintreihen emblematischer Werke taucht unser Titel nicht auf, was einmal mehr beweist, daß viele alte Drucke noch auf die verdiente Beachtung warten.
Besonderen Wert erhält das hier reproduzierte Exemplar durch die französische Übersetzung, die eine alte Hand hinzugefügt hat. Leider ist ehedem beim Beschneiden des Buches der handschriftliche Text am rechten Rand der rechten Seite teilweise gekappt worden. Um dem Leser die Entzifferung der Handschrift des uns unbekannten Schreibers zu erleichtern, transkribieren wir die ersten drei Bibelzitate:
Nr. 1: L’homme né de femme vivant petite espace de temps est rempli de beaucoup de calamités et miseres
Nr. 2: Nostre seigneur donnera force et vertu a son peuple et il le benira en paix
Nr. 3: Comment es-tu decheu du ciel Lucifer qui te monstrois tousiours au matin tu es cheu en terre
Manche Stellen unserer Transkription bleiben zweifelhaft. Nach Edmond Huguet (Dictionnaire de la langue française du seizième siècle) wäre in folgenden Fällen eine andere Schreibung zu erwarten: beniera, decheut, cheut. Gehört die Handschrift vielleicht einer etwas späteren Sprachstufe (1. Hälfte des 17. Jahrhunderts?) an?
- Titelkupfer
- Erklärung des Titelkupfers
- Widmung
- Widmung (Forts.) / Vorwort an den Leser
- Vorwort an den Leser (Forts.)
- Mikrokosmos 1. Homo = Der Mensch als Welt im kleinen : Analogie von Mensch und Kosmos - Augen als Mond und Sonne, Lebenslauf des Menschen und Lauf der Sonne vom Aufgang zum Untergang, Kälte und Hitze und die drei Elemente im menschlichen Körper und in der Welt, die vier Lebensalter und die vier Jahreszeiten.
- 2. Mundus argenteus = Die silberne Welt : Das silberne Weltalter unter Jupiters Herrschaft verglichen mit dem goldenen unter Saturn.
- 3. De Cupidine et Iove = Amor und Jupiter : Weil Amor mit seinen Liebespfeilen Unruhe unter den Göttern stiftete, stürzte Jupiter ihn vom Himmel.
- 4. Iuppiter Palladem parit = Jupiter gebiert Athene : Die Weisheit ist eine Frucht des Geistes, nicht des Fleisches.
- 5. Promotheus (!) in crucem suspensus = Der gekreuzigte Prometheus : Dieses Bild ermahnt uns, diejenigen, die im Elend sind, nicht zu quälen, sondern zu trösten.
- 6. Invidia ut alteri noceat, nec sibi parcit = Die Mißgunst verschont, wenn sie nur anderen schaden kann, nicht einmal sich selbst : Als Apoll, von Jupiter gesandt, bösen Mädchen die Erfüllung ihrer Wünsche versprach, jedoch so, daß eine andere jeweils die doppelte Menge des Gewährten erhalten sollte, da wünschte sich eine, die von Mißgunst erfüllt war, ein Auge zu verlieren, damit ihre Gespielin ganz blind würde.
- 7. Au[lus] Gel[lius] in Noct[ibus] Att[icis]: Non semel est, neque bis, minus est, sed utrumque vocatur [ein altes Rätsel, das A. Gellius (Noct. Att. XII 6) nach M. Terentius Varro (De sermone Latino ad Marcellum, Buch 2) so zitiert: semel minusne an bis minus sit nescio, / an utrumque eorum; ut quondam audivi dicier, / Iovi ipsi regi noluit concedere.] = Es ist nicht ein Wesen noch zwei, sondern keines von beiden, wird aber beides genannt : Jupiter gebot einem Grenzstein, der oben wie ein Frauenkopf gebildet war, Platz zu machen. Der aber wich nicht von der Stelle. (V.7 lies: consisto; V.8 lies: minis.)
- 8. Vindicta deorum tarda = Die Rache der Götter kommt spät : Der stillstehende Windmühlenflügel versinnbildlicht den Zorn Gottes, dessen Strafe den Übeltäter zwar spät, doch mit doppelter Wucht trifft.
- 9. Herbarum virtus = Die Wirkkraft der Heilkräuter : Ein Arzt fand bei der Suche nach Heilkräutern in der Wildnis einen Jüngling, der, mit Laubzweigen bekränzt, einen Basilisken besiegte, diesem ohne den Blätterkranz jedoch unterlag. (V.6 lies: Basiliscus; V.7 lies: Iuvenemque.)
- 10. De Baccho et Pegaso = Bacchus und Pegasus : Der Gott des Weines regt Blut und Geist an, er stärkt die Spannkraft und fördert das schöpferische Denken.
- 11. Pacis fructus = Die Frucht des Friedens : Die Frucht des Friedens ist der Reichtum. Wahren Frieden beschert uns der, der Gott und die Menschheit versöhnt hat.
- 12. Labor omnia vincit improbus = Unverdrossene Arbeit überwindet alles [Verg. georg. 1,146] : Diana im Eifer des Jagens ist vor Amors Pfeilen sicher: Fleiß als Mittel gegen die Liebesleidenschaft.
- 13. De Morte et Cupidine = Der Tod und die Liebe : Der Tod und Amor lagen schlafend am selben Ort. Als sie aufwachten, nahm aus Versehen einer den Bogen des anderen, und, siehe da, in Liebe entbrannte der Greis, doch der junge Mann starb. (V.6 lies: serta parat; V.7 lies: arcu.)
- 14. Momus = Der Tadel : Beim Gelage der Götter tanzt Venus. Alle applaudieren, nur der Tadel merkt etwas an: Ihr Schuh sei zu laut. (V.1 lies: citharae; V.2: lies: dyque deaeque simul; V.4: lies: serta.)
- 15. Sine Cerere et Baccho friget Venus = Ohne Speis und Trank fröstelt die Liebe : Wein und üppige Mahlzeiten erregen die verderbliche Leidenschaft der Liebe.
- 16. De Priapo et veneficis = Priap und die Giftmischerinnen : Ein Unternehmen, das gegen den Willen Gottes ist, führt nicht zum Erfolg.
- 17. Mars, Sparta, et Victoria = Die Statue des Mars in Sparta und die der Victoria : Ohne den Segen Gottes ist alles Bemühen eitel.
- 18. De sincera charitate = Die wahre Nächstenliebe : Die drei Musen sind ein Sinnbild wahrer Freundschaft - unverhüllt und auch im Unglück eins. (Die dem Betrachter den Rücken zuwendende Thalia ist vom Unglück = aversa Fortuna betroffen.)
- 19. De beneficiis = Von Wohltaten : In Rom gab es einen Tempel, in dem drei Göttinnen verehrt wurden, die das Geben, das Empfangen und das dankbare Erinnern der Wohltat symbolisierten - drei unverhüllte, freundliche Jungfrauen als Sinnbilder wahrer Nächstenliebe.
- 20. Sapientiam avaritia et dolus decipiunt = Habgier und Hinterlist stellen der Weisheit eine Falle : Selbst Minerva muß vor Geldgier und Täuschung auf der Hut sein.
- 21. Fortunae natura = Die Natur des Glücks : In Smyrna gab es eine Statue der geflügelten Fortuna ohne Füße als Sinnbild ihres unsteten, flüchtigen Charakters.
- 22. Paupertas Fortunae victrix = Die Armut als Bezwingerin der Launen des Schicksals : Der Weise, der sich mit wenigem zufrieden gibt, ist von den Wechselfällen des Glückes nicht abhängig.
- 23. De Atalanta et Megareio = Atalante und der Sohn des Megareus (vgl. Ovid met. 10,560ff. A. und Hippomenes) : Die spröde Jungfrau und schnelle Läuferin Atalante ließ sich von den goldenen Äpfeln, die ihr Konkurrent Hippomenes ihr vor die Füße warf, ablenken und wurde so von ihm bezwungen.
- 24. De Tiberio et paupere = Tiberius und der Arme : Kaiser Tiberius ließ seinen Diener einen Schwarm Mücken vom Körper eines Armen vertreiben. Dieser wehrte es ihm und sagte, anstelle des alten Schwarms schon gesättigter Mücken werde dann nur ein neuer kommen und sein Blut noch gieriger saugen: Ein Sinnbild für den bestechlichen Richter.
- 25. Pietatis et impietatis exemplum = Ein Beispiel für richtiges und falsches Verhalten zu den Eltern : Aeneas geleitet Vater und Sohn sicher aus dem brennenden Troja; Nero aber tötet seine Mutter. (V.6 lies: referens.)
- 26. Gentilium cadavera laurea sepeliebantur = Die Heiden begruben ihre Toten bekränzt mit Lorbeer : Wenn selbst die Heiden ihre Toten für glücklich hielten, weil sie dem Elend der Welt entronnen waren, um wieviel mehr müssen dann wir Christen unsere Verstorbenen, denen ja der Himmel offensteht, für glücklich halten!
- 27. Amor decori[s] nescius = Die Liebe ist ehrvergessen : Der König Sardanapal läßt sich in seinem Liebesverlangen dazu herab, seinen Gespielinnen zuliebe zu spinnen.
- 28. De Perillo et tauro aeneo = Perillus und der eherne Stier : Der Künstler Perillus schenkte dem Tyrannen Phalaris von Agrigent einen ehernen Stier, in dem man Verurteilte langsam braten konnte, wobei ihre Schmerzensschreie wie das Brüllen eines Stieres klangen. Als erstes Opfer sperrte Phalaris den Künstler selbst in den Leib des Stieres.
- 29. Formido mortis = Die Todesangst : Ein König lädt einen Gast zum reichen Mahl unter einem herabhängenden Schwert ein. Diesem vergeht der Appetit. (V.6 lies: omnis; V.7 lies: solium.)
- 30. Superbiae nota = Rüge des Hochmuts : Ein weiser König ließ seine drei Söhne zwischen drei Vögeln wählen. Während der älteste den Adler und der zweite den Habicht wählte, war der jüngste mit einer gewöhnlichen Drossel zufrieden. Diesem gab der König obendrein seine Krone.
- 31. Aetas ferrea = Das eherne Zeitalter : Pluto regiert mit seinem Zweizack; bewaffnet stürzen sich die Menschen in den Krieg, den Mars mit brennender Fackel erregt. (V.5 lies: Cacodaemones; V.7 lies: Exulat.)
- 32. Coena Pithagorica = Die Nahrung des Pythagoras : Pythagoras aß Brot und Gemüse und trank Wasser; Wein und Fleisch verschmähte er. Wir Christen sollten uns unserer Trunksucht schämen. (V.8 lies: regnat.)
- 33. Patientia Socratis = Des Sokrates Geduld : Sokrates hatte zwei Frauen; von beiden wurde er schlecht behandelt. Er nahm das auf sich, um in diesem Ungemach seine Tugend zu üben.
- 34. Laertius in Vita Diogenis = Diogenes Laertius in seiner Lebensbeschreibung des Kynikers Diogenes : Als Plato einmal inmitten seiner Schüler lehrte, überführte Diogenes ihn mit einem gerupften Hahn des Irrtums. Manchmal irrt auch der klügste Mensch. (V.1 lies: Discipulis.)
- 35. Homo arbor inversa = Der Mensch ist ein umgekehrter Baum : Wie Aristoteles sagt, ist der Kopf des Menschen wie die Wurzel eines Baumes: Von ihm hängt das Gedeihen des Ganzen ab.
- 36. Sapiens parvo contentus vivit = Der Weise ist mit wenigem zufrieden : Weil das Leben so kurz sei, wollte Diogenes sich kein Haus bauen, sondern in einer Tonne wohnen. Als Alexander ihm einen Wunsch freigab, bat er ihn: Geh mir aus der Sonne! (V.4 lies: Contentusque.)
- 37. Dives sua forte (lies: sorte?) contentus = Wer mit seinem Los zufrieden ist, ist reich : Als Diogenes an einem Bach einen Knaben sah, der das Wasser mit der hohlen Hand zum Munde führte, warf er seine Trinkschale fort.
- 38. Qui sint homines = Wer wirklich Mensch ist : Diogenes ging um die Mittagszeit mit einer Laterne auf den Markt. Auf die Frage, was er da tue, antwortete er: Ich suche Menschen. Die Leute nämlich, die ihn dies fragten, lebten, so sagte er, ohne Vernunft wie die wilden Tiere.
- 39. Divitiarum contemtus = Von Verachtung des Reichtums : Der weise Krates verkaufte sein Landgut und warf das Geld, das er dafür erhielt, ins Meer. Auch die Bibel ermahnt uns, unser Herz nicht dem Mammon auszuliefern.
- 40. Vino sobrie utendum = Wein soll man maßvoll genießen : Drei Becher Wein zeigt das Bild. Der erste soll den Durst stillen, der zweite den Magen stärken, der dritte den Freunden zugetrunken werden.
- 41. Sphinx = Die Sphinx : Sie gibt folgendes Rätsel auf: Welches Wesen geht morgens auf vier Füßen, mittags auf zweien und abends auf dreien? Es ist der Mensch, der als Kleinkind auf allen vieren krabbelt, als Mann gerüstet marschiert und als Greis am Stock geht. (V.12 lies: Decrepitum.)
- 42. In aliena vitia liinces [lynces] in nostra talpae = Wenn es um die Fehler anderer geht, sind wir scharfsichtig wie ein Luchs; geht es um unsere eigenen, sind wir blind wie ein Maulwurf : Tadle nicht das Verhalten anderer, sondern notiere deine eigenen Fehler!
- 43. Gallorum Hercules = Der Hercules der Gallier : Die Gallier stellen sich die Macht der lateinischen Rede als einen kraftvollen Helden vor, dessen Zunge durch lockere Bänder mit vielen Menschen verknüpft ist. Diese bringt er dazu, das Wort Gottes zu hören. (V.3 lies: pendente.)
- 44. Pars pessima et optima lingua = Die Zunge ist der schlechteste und der beste Teil des Menschen : Als der Gesandte des Königs von Ägypten den weisen Bias fragte, was der schlechteste Teil des Menschen und was der beste sei, da streckte dieser ihm die Zunge heraus - mit gutem Grund.
- 45. Ad audiendum veloces, tardi ad loquendum = Schnell im Hören, langsam im Sprechen : Der weise Solon schnitt sich die Zunge ab. Nach dem Grund gefragt, schrieb er, daß vielen das Reden geschadet habe, niemandem aber das Schweigen.
- 46. Emptoris iustissimi exemplum = Das Beispiel eines ehrlichen Händlers : Als einmal eine große Hungersnot auf Rhodos herrschte, legten endlich drei Schiffe voller Getreide im Hafen an. Der Kapitän sagte: Bürger, zahlt nicht zu viel für diese Ware. Bald werden noch mehr Schiffe kommen.
- 47. Iudicium memoratu dignum = Ein denkwürdiges Urteil : Ein Mann hinterließ drei Söhne, von denen einer aus einer anderen Verbindung stammte. Um den Streit um die Erbschaft zu schlichten, ließ der Richter den Leichnam des Vaters an einen Baum hängen und versprach demjenigen das Erbe, der ihn treffen würde. Da schossen die beiden anderen mit dem Pfeil auf den Vater und durchbohrten ihn. Der dritte aber wollte es auf keinen Fall versuchen. So erwies ihn seine Kindesliebe als wahren Sohn.
- 48. Osculum pessimum matris = Der schlimme Kuß, den einer seiner Mutter gab : Ein junger Mann wurde zum Tod am Kreuz verurteilt. Als er sich von seiner Mutter mit einem Kuß verabschiedete, biß er ihr die Nase ab, so daß sie heftig blutete. Sie nämlich, so sagte er, sei die Hauptursache für sein Verderben.
- 49. Hercules elegit virtutis callem = Hercules wählte den Pfad der Tugend : Als Hercules unter einer Fichte schlief, erblickte er auf der einen Seite die Göttin der Tugend, die ihm einen schwierigen Weg in die Höhe wies, auf der anderen Seite Venus, die ihm einen angenehmen Weg zeigte, der jedoch abschüssig ist und ins Verderben führt. (V.2 lies: Amphitryoniades; V.3 lies: anguitenens.)
- 50. Quo semel imbuta est recens servabit odorem testa diu = Womit ein Gefäß zuerst gefüllt wurde, dessen Geruch behält es noch lange [vgl. Horaz ep. 1,2,70 Quo semel est imbuta recens servabit odorem / testa diu] : Was der Mensch als Kind aufnimmt, das prägt ihn für sein ganzes Leben. Die Seele des Kindes ist wie eine leere Tafel, auf die ein Künstler schreiben kann. (V.8 lies: sculpere.)
- 51. Foemina bellicosa = Die kriegerische Frau : Die berühmte Semiramis wagte es, selbst in den Krieg zu ziehen, und eroberte Babylon, das von seinem König abfiel.
- 52. De Cyro rege Persarum = Über den Perserkönig Cyrus : Tomyris, die kriegerische Königin der Massageten, besiegte den Perserkönig Cyrus und hieb ihm das Haupt ab - ein Ende, wie es Tyrannen verdienen.
- 53. Nautae in pecora mutantur = Seefahrer werden in Tiere verwandelt : Als Odysseus mit seinen Gefährten auf die Insel der Zauberin Circe verschlagen wird, verwandelt diese durch einen Zaubertrank einen Teil seiner Leute in Tiere. Odysseus bedroht Circe und zwingt sie, den Gefährten die Menschengestalt zurückzugeben. (V.1-6 werden die Sirenen mit Circe assoziiert.)
- 54. Exemplum castitatis = Ein Beispiel sittlicher Reinheit : Penelope hielt ihrem Mann während seiner jahrzehntelangen Abwesenheit die Treue. Ihre Freier täuschte sie mit dem Versprechen, sie wolle in eine neue Ehe einwilligen, sobald sie ihre Webarbeit vollendet habe. Diese aber zog sie in die Länge, indem sie nachts auflöste, was sie tags gewebt hatte. (V.11 lies: protraxit.)
- 55. De viridi iuvenis imagine = Das Standbild eines blühenden Jünglings : In Rom errichtete man ein Standbild eines jungen Mannes als Sinnbild der Freundschaft. Die Aufschriften "Winter und Sommer, fern und nah, Tod und Leben" wiesen auf die Beständigkeit wahrer Freundschaft hin. (Im Bibelzitat unter dem Bild lies: angustiis.)
- 56. Exemplum veri amoris = Ein Beispiel wahrer Liebe : Der zum Tode verurteilte Damon darf vor der Hinrichtung noch einmal in seine Heimat zurückkehren, um seine Angelegenheiten zu ordnen, nachdem sein Freund Pythias (nach Iamblichos: Leben des Pythagoras, 233ff., hieß er Phintias) sich für seine Rückkehr verbürgt und sich hatte einkerkern lassen. Damon kehrt pünktlich zurück, worauf der Richter (bei Iamblichos ist es der Tyrann von Syrakus Dionysios II.) beiden die Freiheit schenkt. (V.2 lies: lumina; V.14 lies: Atque.)
- 57. De iudicibus et umbra asini = Die Richter und der Schatten des Esels : Der Philosoph Empedokles erzählte, als er einen Angeklagten vor Gericht vertrat, den schläfrigen Richtern die folgende Geschichte: Ein Reisender mietete einen Esel, und da die Sonne brannte, legte er sich bald in seinem Schatten zur Ruhe nieder. Der Eigentümer des Esels aber machte ihm den schattigen Platz streitig. Ebenso, sprach er zu den Richtern, zieht ihr es vor, im Schatten des Traums zu verweilen, anstatt der Sache auf den Grund zu gehen. (V.12 statt ò Asine lies: Asini (?); V.13 lies: haberent.)
- 58. Fidelis amici exemplum = Ein Beispiel von Freundestreue : Ein reicher Mann, der seinen armen Freund beschenken wollte, versteckte seine Gaben in einem Kissen, so daß der Freund sie später fand.
- 59. Aedes sacra Fidei = Der Tempel der Fides : König Numa gründete in Rom einen Tempel, der Treu und Glauben geheiligt war. Hier pflegten die Römer zu schwören und Verträge abzuschließen. Wenn sogar die Heiden Treu und Glauben so hoch schätzten, um wieviel mehr müssen es dann die Christen tun, die bei dem wahren Gott schwören! (V.8 lies: veri.)
- 60. Mora fortitudo Firmii = Die törichte Stärke des Firmius : Ein gewisser Fermius (!) war so kräftig, daß er sich unter einen Amboß legte und andere darauf schlagen ließ. Wer sich aber ohne Grund in Gefahr begibt, kommt darin um. (V.1 lies: magnis.)
- 61. De Milone fortissimo = Über den superstarken Milo : Der Athlet Milon von Kroton pflegte große Tiere mit der bloßen Faust zu töten und sie anschließend zu verspeisen. Als er einmal einen gespaltenen Baum vollends auseinanderzwingen wollte, klemmte er seine Hand ein. Gefangen, wurde Milon ein Raub der wilden Tiere. (V.2 lies: validis.)
- 62. In garrulum =Gegen einen Schwätzer : Tantalus plauderte einst Geheimnisse der Götter aus. Er mußte zur Strafe im Wasser dürsten und unter Äpfeln hungern. Wer schweigt, kommt den Göttern gleich.
- 63. Quam naturam habeant potu obruty [obruti] = Von welcher Art Betrunkene sind : Ein Winzer düngte seinen Weinberg mit dem Mist von vier Arten von Tieren, deren Wesen auf die Betrunkenen übergeht - die Einfalt vom Schaf, die drollige Aufführung vom Affen, die Begierde vom Schwein und der Zorn vom Löwen.
- 64. In homines impios = Gegen die Frevler : Den Sänger Arion stürzen verbrecherische Seeleute ins Meer. Ein Delphin trägt ihn ans Land. Habgierige Menschen sind wilder als Tiere.
- 65. Samion fortunatissinus (!) = Der am meisten vom Glück begünstigte Samier: Das Glück war Polykrates, dem Tyrannen von Samos, immer gewogen. Um den Neid der Götter abzuwenden, warf er einen Ring als Opfer ins Meer. Nach einigen Tagen jedoch fand sich der Ring in einem Fisch auf der Tafel des Tyrannen wieder. (Samion ist griechischer Genetiv Plural; lies: fortunatissimus.)
- 66. Mira fortitudo piscis = Die wundersame Stärke eines Fisches : Der Fisch namens Remora (= Verhinderung) ist nicht länger als ein Fuß und trägt auf der Stirn ein Horn. Er kann großen Schiffen im Meer den Weg versperren. Hieraus ist zu lernen, wie lang die mächtige Hand Gottes ist.
- 67. Lupi oves devorantes = Die Wölfe, die die Schafe verschlangen : Hirte, Schafe und Schäferhunde lagen mit Wölfen im Krieg. Diese boten ihnen Frieden unter der Bedingung an, daß die Hunde abzögen. So geschah es. Nun stürzten sich die Wölfe auf die wehrlosen Schafe und verschlangen sie.
- 68. In arrogantes et ambitiosos = Gegen die Anmaßenden und Ehrgeizigen : Sag mir, Rabe, warum du dich mit fremden Federn schmückst? Bald wird dir die ganze Vogelschar die Federn ausrupfen.
- 69. Homicida sui ipsius ultor = Der Mörder, der sich selbst bestrafte : Hier nährt sich eine Harpyie von Fleisch und Blut eines Menschen. Doch sie freute sich ihrer Untat nicht lange. Der Anblick einer ertrunkenen Harpyie, die im Fluß vorbeitrieb, erschreckte sie auf den Tod.
- 70. Apulaeus (!) transformatur in asinum = Apuleius wird in einen Esel verwandelt : Nach dem Beispiel einer Zauberin strich Apuleius Salben auf seine Gliedmaßen und verwandelte sich so in einen Esel. Durch den Genuß von Rosen erhielt er seine menschliche Gestalt wieder. Durch die Rose, d.h. durch Weisheit, wird der Mensch zum Menschen und der Fürst zum Fürsten.
- 71. Idololatrae stupiditas = Die Torheit des Götzendieners : Um die göttliche Verehrung des Feuers durch die Chaldäer zu verspotten, füllte ein schlauer Mann ein großes Gefäß, dem er Gliedmaßen und Kopf eines Menschen angefügt hatte, mit Wasser. Als er diese Figur neben einem Feuergefäß aufstellte, schmolz das Wachs, mit dem er zuvor die zahlreichen Löcher des Gefäßes verstopft hatte, und das Wasser, das durch die Löcher austrat, schien das göttliche Feuer zu töten. (V.2 lies: Flammam; V.6 lies: vivi.)
- 72. Inventor picturae = Der Erfinder der Malerei : Ein Hirte erfand die Kunst des Malens, indem er den Schattenumriß eines seiner Schafe in den Sand zeichnete. Apelles vervollkommnete die Malkunst.
- 73. Ne sutor ultra crepidam = Schuster bleib bei deinem Leisten : Als Apelles sein Gemälde von Venus und Amor zur Besichtigung freigab, prüfte auch ein Schuster seine Arbeit und kritisierte dieses und jenes. Apelles hörte ihn und sagte: Bleibe jeder doch bei der Kunst, die er gelernt hat.
- 74. Homines atque volucres picturis decipiuntur = Menschen und Vögel lassen sich von Gemälden täuschen : So schön malte Zeuxis einen Knaben, der eine Weinrebe in der Hand hielt, daß die Vögel heranflogen, um in die Trauben zu picken. Sein Rivale Parrhasius bemerkte: Wäre der Knabe täuschend echt, dann würden die Vögel dies nicht wagen. Er selbst malte in seinem Hause einen Vorhang so realistisch, daß Zeuxis, als er ihn sah, ihn zurückziehen wollte.
- Ad Lectorem. Impressum.
Mail an MATEO
Heinz Kredel,
E-mail:
kredel@rz.uni-mannheim.de
Wolfgang Schibel,
E-mail:
Schibel@bib.uni-mannheim.de
Emir Zuljevic,
E-mail:
zuljevic@rummelplatz.uni-mannheim.de
Mannheim, 25. Mai 1998