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Oswald Riedel: Wahrheit als Quantität, im Beispiel der Chemie

Die Grundfrage der Philosophie lautet: Wie stehen Denken und Sein zueinander? So, das ist ontologisch, wird gefragt seit der Antike; später, transzendentalisiert: Wie ist es überhaupt möglich, daß meine Vorstellung sich auf einen Gegenstand beziehen kann?

Wahrheit ist das Qualitätskriterium einer Anwort auf die Grundfrage.

Die Quantitative Analyse wird den meisten Philosophen als ein banaler, oft kommerzieller Zweig der Chemie gelten, doch wird gerade sie von der Wahrheitsfrage beherrscht, wie kaum eine andere Forschung, während die Kunst mancher Philosophen darin besteht, der Wahrheitsfrage auszuweichen. Die Chemie ist keineswegs Bittstellerin vor den Pforten philosophischer Schulen.

Wenn Kant, welcher vordem noch bezweifelt hatte, ob "Chymie" Wissenschaft sei (1), sich später eingehend (2) mit Chemie beschäftigte, dann deshalb, weil er als Philosoph belehrt zu werden hoffte. Justus von Liebig andererseits floh aus Schellings Kolleg über spekulative Naturphilosophie. Erhabenheit über Naturwissenschaft ist nicht ausgestorben. Rührendes Beispiel ist eine Passage (3) in Putnams "Funktionalismus", zufolge welcher Gehirn und Computer sich beide verstehen lassen sollten aus der Existenz körperloser Geister. Gegen die Chemie sind Philosophen nicht so waghalsig, sie ist weniger anheimelnd als die Physik.

In der Quantitativen Analyse steht auch im Wahrheitskriterium selbst eine Quantität, in Zahlen anzugeben und damit von höherem Rang als eine Aussage bloß in Worten.

Die elementare Quantität ist die Stück um Stück abzählbare. Sie kommt vor in der radiometrischen Analyse, mittels welcher die Menge eines chemischen Elements meßbar gemacht wird dadurch, daß ein radioaktives Isotop von bekannter Zerfallsrate beigemischt wurde. Die Folge der Pulse in der Zeit wird vom Zufall regiert. Die statistische Reinheit (4) dieses Zufallsgenerators ist ersichtlich daran, daß oder ob sich Zählraten um ihren Mittelwert gemäß der — für hinreichend große Kollektive geltenden — Gaußschen Glockenkurve verteilen. Deren Parameter ist die "Streuung" , welche, wie die Wahrscheinlichkeitsrechnung beweist, gleich ist der Wurzel aus der mittleren Anzahl der Pulse. Zwangsläufig wird im Zufallsgenerator die Streuung besorgt durch die Quantität selbst: Je mehr Pulse man zählen läßt, umso kleiner wird die Streuung der Rate, jedoch auf null bringt man nie. Unschärfe bleibt, genauer gesagt: Der Befund trifft zu mit einer Wahrscheinlichkeit, welche durch die Breite der Glockenkurve präzisiert ist. Diese Breite wiederum ist auch selbst mit Streuung behaftet (4).

Folgerung: Wir finden in der Natur die Quantität nicht als Wahrheit, sondern bloß als Wahrscheinlichkeit.

So allgemein gefällt mag dieses Urteil voreilig erscheinen, sollten doch vielleicht andere Bereiche des Messens besser ausgerüstet sein als die radiometrische Analyse mit ihrer inhärenten Streuung. Dem aber ist nicht so.

Über jeglichen Verdacht auf inhärente Streuung erhaben ist die Winkelsumme im Dreieck. Kraft des Parallelenaxioms beträgt sie genau 180 Grad. In der Praxis der Triangulation der Landvermesser jedoch streuen die Winkelsummen. Überraschend ist nun, daß die von Gauß eingeführten Fehlerquadrate, das sind die Quadrate der Differenzen der einzelnen Meßwerte gegen ihren Mittelwert, ebenfalls, ohne daß jetzt eine Beziehung zwischen und dem Mittelwert besteht, wiederum der Glockenkurve gehorchen. Es muß also auch hier der Zufall wirken. In der Radiometrie war klar, daß die Substanz selbst der Zufallsgenerator ist; ein solcher wird nun vermißt.

Philosophisch geurteilt, besteht eine Lücke in der Semantik. Gauß blieb davon beunruhigt, auch andere versuchten vergeblich die Lücke zu füllen (5). Sie waren zwar erfahren darin, die Mathematik in Operationen auszuüben, hatten aber nicht erkannt, daß die Mathematik sogar in ihrem Wesen operativ ist und nicht mit Inhalten zu füllen. Dennoch inhaltlich versuchte es eine fundamentalistische Schule seit etwa 1935, indem sie die gesamte Mathematik auf die Mengenlehre umgründen wollte. Doch auch diese Mathematiker müssen (6) einen Zufallsgenerator diskussionslos als Hypothese hinnehmen.

Auch die Lücke in der Semantik wird operativ bewältigt, das ist, sie wird überspielt in Pragmatik; "Der Mathematiker muß manchmal mogeln" sagte der große Mathematiker David Hilbert (7). Die Fehlerrechnung wird in pragmatischer Absicht gehandhabt. In der radiometrischen Analyse gibt es nicht nur die Streuung der Emission, sondern auch noch Fehler beim Wiegen und Pipettieren und bei der Halbwertszeit des Radionuklids. Aus allen zusammen berechnet sich das des schließlichen Befundes (8).

Daß es im allgemeinen Wahrheit im klassischen Sinne für Quantitäten nicht gibt, nahmen die Philosophen teils nicht zur Kenntnis, teils meinen sie, daß es erst die Quantenmechanik gewesen sei, welcher Streuung als inhärent zukommt. Das Rätsel des nuklearen Zufallsgenerators schiebt die Quantenmechanik in ein räumliches Wahrscheinlichkeitsfeld, aufgebaut zu denken vom Feldskalar . Doch Max Born, ein Begründer der Quantenmechanik, bewies, daß es schon in der klassischen Mechanik keine sicheren quantitativen Aussagen gibt (9).

Wenn nun der Befund einer Quantitativen Analyse auch ein bloß wahrscheinlicher genannt werden darf, so wird man sich doch hüten, ihn deshalb als unwahr zu verwerfen. Dieses tun müßte der Analytische Philosoph, gemäß Wittgensteins Schweigegebot verpflichtet auf die entschiedenen Wahrheitswerte in den Algorithmen formaler Logik, wie G. von Wright neuerdings wieder bekräftigte (10).

Um meine Erkenntnis auf Wahrheit zu prüfen, ist es unerläßlich, daß ich den Prozeß meiner Erkenntnis als Ganzes anschaue. Dem genügen nicht gewisse, noch zu besprechende, lehrbuchmäßig bekannte Wahrheitskriterien, deren jedes als Kriterium allein hinreichend sein will. Erkenntnis kommt daher, daß das Individuum sich aufrafft zu einer Einheit des Ich, als welche es sich der Außenwelt entgegenzusetzen vermag. Grund dazu ist das, was Nietzsche (11) entdeckte als den "Willen zur Macht": Ich will mich der Welt bemächtigen als Erkennender, auf den Begriff Bringender, womöglich als Bearbeitender. Dieser Wille ist es auch, dem sich ganz deutlich die chemische Analyse verdankt.

Darüber grübelnd, wie denn Erkenntnis sich ausbilde, kommt man darauf, daß dabei ganz von selbst jener Trias gefolgt wird, deren drei Gliedern Kant in der "Kritik der reinen Vernunft" Namen gab:

  1. Das Noumenon. Es besteht im Individuum. Es ist Gedachtes, dessen Quellen beliebig sind.
  2. Das Ding an sich. Das Individuum bildet es sich aus dem Wahrgenommenen in eigener Gedankenarbeit als ein Bündel von Phainomena.
  3. Das Transzendentale Objekt. Im Individuum, zu Erkenntnis gefordert durch das Ding an sich, trifft sich mit diesem das Noumenon in einer Hypothese, nämlich in dem Begriff des als etwas erkannten Bündels von Phainomena.

Die Antwort auf die Grundfrage der Philosophie ist gefunden im Transzendentalen Objekt: Es bezieht die Welt auf den Geist.

"Transzendental" heißt das Objekt deshalb, weil es sich nicht metaphysischer Spekulation oder Dogmen verdankt, sondern dem kritisch angewandten und gegebenenfalls bereicherten noumenalen Bestand. Die Vokabel "transzendental" der Scholastik hat Kant säkular umgewidmet, statt einer göttlichen Darreichung von Erkenntnis nunmehr betreffend den Erkennnisprozeß im Menschen allein. Die Anschuldigung, er habe eine irrationale Vorliebe für die Zahl drei, vermochte Kant mit Recht zurückzuweisen.

Man vermenge nicht diese Trias mit jenem dialektischen Dreischritt wie er sich, von Kant selbst gelegentlich seiner Kategorientafel vorgeführt, über Fichte und Hegel bis zum Diamat fortpflanzte. Denn das Transzendentale Objekt ist nicht eine Synthese, sondern Treffpunkt. In ihm trifft sich das Noumenon nicht bloß mit dem, einem Phainomenon, sondern mit dem Ding an sich, welches mehr ist, als ein einzelner Eindruck. Die Quantitative Analyse, ebenfalls ein Erkenntnisprozeß, enthält ihren Befund in einem Transzendentalen Objekt.

Nun in Kants Transzendentalphilosophie steckend, wird es unerläßlich, jene Rüge (12) von F. H. Jacobi, 1787, zurückzuweisen, welche bis heute der Transzendentalphilosophie als ein scheinbarer Makel anhängt, der sie für viele unannehmbar macht. Habe Kant doch gelehrt, daß wir immer nur Phainomena wahrnehmen, niemals Dinge und daß somit auch Kausation lediglich als ein Gedankending bestehe, wiederum Phainomena bündelnd. Nun aber nehme Kant doch wieder mit dem Ding an sich ein Ding als Ursache, als Ursache von Phainomena nämlich.

Jacobi hatte nicht Recht. Kant versteht das Ding an sich eben nicht alt-ontologisch als ein wahres Seiendes; er wählte diesen, allerdings leicht mißzuverstehenden Namen für eine grundsätzlich kontingente, revueartige Assoziation von Phainomena. "Hinzuerfunden" werde Ding, erkannte Nietzsche (13). Jacobi hatte einfach Kants kopernikanische Wende verpaßt.

Die Beschaffenheit des sogenannten Dinges an sich, das ist die Art und die Anzahl der als es assoziierten Phainomena, wirkt zurück auf Noumenon und Transzendentales Objekt. Der Analytischen Chemie fehlten einst noch die mit dem Gewicht einhergehenden Phainomena. Mit der Waage in der Hand des Chemikers baute sich die Chemie um, aus dem Transzendentalen Objekt verschwand das Phlogiston. Es verschwand auch aus Noumenon und Ding an sich. Die Trias steht ineinander in einem grundsätzlich dynamischen Abgleich.

Der kantischen Trias im Ergebnis gleich kommt Kellers "hermeneutische Spirale" (14), in welcher Vorverständnis und Wahrnehmung zu einem Verstehen zusammenwirken. Keller hebt hervor, daß dann durch mein Urteil "wahr", Unschärfe inbegriffen (15), eine Intention, die ich hatte (16), einstweilen befriedigend erfüllt wird.

Die kantische Trias wird durch Pragmatik verklammert, hinweg über Lücken in der Semantik, Hilberts "Mogeln" (7).

Einem als stationär erreichten Abgleich, Adaequatio, wie von Waagschalen gegeneinander, gibt man seit Aristoteles über Thomas von Aquin und bei Kant (17) den Namen "Wahrheit". In "De veritate" sagt Thomas "Veritas est adaequatio rei et intellectus, secundum quod intellectus dicit esse, quod est, vel non esse, quod non est." Doch ohne Kenntnis der Trias mußte offenbleiben, womit eigentlich die Waagschalen zu füllen seien, was "adaequatio" denn bedeuten solle.

Das Noumenon speist sich aus mitunter kontingenten, gar aus trüben Quellen. Kant empfiehlt sogar Schwärmerei als nützlich, wobei die Einbildungskraft freien Schwung haben und nicht matt sein soll (18). Feyerabends Spruch "anything goes" (19) ist ebenfalls so gemeint. Kekulé fand den Benzolring, nachdem er von einem Ringelreihen geträumt hatte. Allgemein gesagt sind es Vorurteile, die sich als Ansatzpunkte von Erkenntnis im Noumenon sammeln, sogar als Axiome, wie bei der Triangulation.

Wie ein Axiom der Chemie galt das Vorurteil, jedem chemischen Element komme sein Atomgewicht zu. Der durch Atomgewichtsbestimmungen berühmte Chemiker war Otto Hönigschmid, 1878-1945. Die Analyse liefert Phainomena, welche als Bündel, als ein Ding an sich, mit jenem Vorurteil im Noumenon sich treffend, auf das Transzendentale Objekt führen, hier ist das der Begriff eines bestimmten Atomgewichts mit einer Streuung .

Doch Hönigschmid verzweifelte fast, als die Befunde manchmal zu stark voneinander abwichen. Es stellte sich heraus, daß die Herkunft der Proben wesentlich war. Wie die inzwischen erfundene Massenspektrometrie dann zeigte, kommt ein Atomgewicht eben nicht einem chemischen Element schlechthin zu, sondern einer Mischung seiner isotopen Nuklide. Die Mischungen stellen sich in der Natur unterschiedlich ein. Damit wurden zugleich falsch das Vorurteil im Noumenon, die Bündelung der Phainomena und das Transzendentale Objekt, in ihm der vorherige Begriff des Atomgewichts.

Die Trias kam heraus aus einem stationären, besser metastabilen Zustand. Das Noumenon, nachdem es durch die Befunde der Massenspektrographie problematisiert worden war, dynamisierte dann die Trias.

Eine ebenfalls im ppm-Bereich spielende Analyse kann die elektro-titrimetrische Wasserbestimmung sein (20). Ist Wasser hineingeraten in eine per Kesselwagen versandte Menge irgendeines organischen Lösungsmittels, so vermag sich der Abnehmer mühelos vorzustellen, daß der Wassergehalt irgendeiner, zwar nicht bekannter sei, doch als Zahl genau feststehe. Mit diesem Vorurteil im Noumenon würde behauptet, daß es eine Eigenschaft gebe, welche außer den Phainomena und über ihnen steht. Damit wäre das "Ding an sich" genannte Gedankengebilde zu einem materialen Ding gefälscht, wie bei Jacobi. Doch wie schon gegen jenen gilt auch hier, daß Ding und Phainomena nicht gegeneinander ausgespielt werden können.

Große Flüssigkeitsmengen entmischen sich gern. Infolgedessen schwankt mitunter die Wasserkonzentration im Kessel von Ort zu Ort, sich zeigend in den an verschiedenen Orten entnommenen Proben. Man erkennt die Ähnlichkeit mit den Diskrepanzen bei Hönigschmid.

Die Überlegungen und die Beispiele zusammennehmend, kann jetzt, nach der Grundfrage, auch die Wahrheitsfrage beantwortet werden: Die Wahrheit ist ein Zustand ausgewogener Ruhe in der Trias, immerhin vibrierend mit der "Amplitude" . Doch der befriedete Zustand hält an nur bis zur nächsten Problematisierung, für welche jedes der drei Ansatz bietet. Mit der Ruhe in der Trias findet auch der suchende Mensch Ruhe, kurz: Der Analytiker ist erleichtert, wenn er seine Zahlen abgegeben hat.

Es ist Pragmatik, der sich die Trias verdankt, doch abzulehnen ist jener Pragmatismus, welcher "wahr" gleichsetzt mit "bestätigt", "verifiziert". Die Phainomena eines Wassergehaltes zeigten sich zwar erst in der Analyse, doch potentiell existierten sie schon vorher, bereit, aktual zu werden. Das werden sie infolge eines Willensaktes, welcher den Erkenntnisprozeß ingangsetzte.

Von der Warte der Trias, ob in Ruhe oder noch im Prozeß des Abgleichs begriffen, stellen sich die herkömmlichen Wahrheitstheorien (21) als partikulär heraus, entgegen ihrem Anspruch. Sie kanonisieren je ein Kriterium.

Dem sogenannten "Kohärenzkriterium" genügt eine Aussage, wenn sie sich nahtlos einpaßt in das vorhandene Korpus der Lehrmeinungen. Ein Atomgewicht sollte in das Periodische System passen. Das verlangen sachkundige Leute im Konsens miteinander. Der Konsens allein soll nach der "Konsenstheorie" als Wahrheitskriterium hinreichen. Die "Korrespondenztheorie" hat als ihr Kriterium denselben Satz "Veritas est adaequatio..." wie die Adäquationstheorie. Indes bliebe dieser Satz, wie bereits gesagt, nur dann nicht inhaltsleer, wenn die adaequatio auf die Trias bezogen würde, was jedoch herkömmlicherweise nicht geschieht. An diesem Mangel scheitern Kohärenz und Konsens ebenfalls, nämlich daran, daß ihnen gegen fehlerhafte Lehrmeinungen eine kritische Instanz fehlt, wie es, selbstverständlich problematisierbar, die Trias ist.

Das Inventar aller philosophischen Schulen auf die Wahrheitsfrage hin durchzunehmen ist nicht angängig. Deren Wahrheitskriterien, falls vorhanden und wie mangelhaft auch immer, werden, wie auch Kohärenz und Konsens, bei gewissenhaftem Betrieb der Erkenntnis von selbst in die Trias inkorporiert sein. Was der Chemiker jedenfalls weiß, ist, daß es in der Quantitativen Analyse zwar nur Wahrscheinlichkeit gibt, doch daß er sich zu dieser als einer Wahrheit bekennen muß. Diese Wahrheit ist als ein befriedeter Zustand der Trias eine pragmatisch verbürgte; ihr Kriterium, die Adaeqatio, wird durch die Zahl präzisiert. Die in einer Ringanalyse erhaltenen Befunde mehrerer Laboratorien haben zum Ziel, sich in diesem Sinne auf einen "wahren" Befund zu einigen.

Pragmatisch unmöglich, gleichwohl geeignet, den Analytiker zu verstören, wäre eine Wahrheitstheorie, welche Wahrheit schlechthin leugnet. Das tut Tarskis (22) sogenannte "Semantische Wahrheitstheorie". (Dieser Name ist ebenso verunglückt wie die "Reitende Artilleriekaserne".) Als ein Adept der Analytischen Philosophie befangen in einem vorkantischen, besser außerkantischen Stadium, mußte Tarski den auch von ihm zurecht als leer erkannten Namen "Adaequatio" auf andere Weise zu füllen suchen. Nachdem er eine semantisch andere "Metasprache" gegen die Objektsprache postuliert hatte, meinte Tarski, "wahr" als ein Meta-Prädikat auffassen zu müssen.

"You are listening to me" ist ein Satz der Objektsprache, Phainomena betreffend. Eine Aussage über diesen Satz, wie "»You are listening to me« ist ein grammatischer englischer Satz" ist ein Satz der Metasprache. Der Übergang in die Metasprache beeinflußt nicht die Mitteilung, daß zugehört wird, geschweige denn die Phainomena selbst. Warum sollte dann

"»You are listening to me« ist wahr."

nicht ebenfalls eine metasprachliche Aussage sein? Die Wahrheitsfrage, heißt es dann, sei ein Scheinproblem. Ignoriert wird damit auch die Grundfrage der Philosophie, so daß ein solches Denken garnicht Philosophie heißen dürfte.

Doch so schlecht ist es um die Philosophie nicht bestellt, als daß sie auf das Kopfschütteln irgendwelcher Praktiker als ihr letztes Kriterium angewiesen wäre. Den Tarski zu widerlegen gelang Strawson (23), indem er die Arbeit eines Übersetzers betrachtete. Im vorliegenden Beispiel bleibend, gibt es nach Strawsons Vorbild zwei Sätze:

  1. "You are listening to me" is a grammatical English sentence.
  2. It is true that you are listening to me.

Der Übersetzer ins Deutsche liefert ab:

  1. * "You are listening to me" ist ein grammatischer englischer Satz.
  2. * Es ist wahr, daß Sie mir zuhören.

In 1. ließ er "You ... to me" unübersetzt, somit ist 1. metasprachlich. In 2. übersetzte er "true" mit "wahr"; wäre es metasprachlich, müßte es "true" bleiben.

Folglich gehört "wahr" in die Objektsprache. Doch, durch Tarski immerhin stutzig geworden, vermutet man, daß dem "wahr" eine Besonderheit zukommen müsse. Was diese sei, ist nun, denkt man an den Analytiker und seine Trias, unschwer zu erraten: Das Prädikat "wahr" erteilend, macht sich die Person zum Bürgen der Adaequatio.

Wahrheit hat, ganz kantisch, ihren Ort im Menschen, in der in jener pragmatischen Absicht befriedeten Trias der Beziehungen zwischen Zeichen und Zeichenbenutzer. Als rückgebeugt in die Person besteht das Prädikat "wahr". Dort hat es ohnehin seinen angestammten Ort. Dem Griechen wäre es eine Asebie gewesen, ein selbst den Göttern nie erfahrbares "wahres Seiendes" zu benennen. So kühn wurde man erst mit dem Schwinden der Götter. Das griechische "alethes" meint eigentlich bloß "unverhohlen, aufrichtig"; ebenso in anderen Sprachen und so meint es auch der Analytiker.

  1. I. Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft. 1786. Seite A V.
  2. K. Vorländer: Immanuel Kant, der Mann und das Werk. 3. Aufl., Felix Meiner Verlag, Hamburg 1992. 2. Buch. 363.
  3. H. Putnam: Vernunft, Wahrheit und Geschichte. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1982. 111.
  4. O. Riedel: Statistical Purity in Nuclear Counting. Nucleonics 12, no. 6, 1954. 64.
  5. E. Czuber: Wahrscheinlichkeitsrechnung, 1. Band, 6. Aufl.,Verlag B. G. Teubner, Leipzig 1941. 291.
  6. H. R. Pitt: Integration, Measure and Probability. Hafner Publ. Co., New York 1963. 48.
  7. Hilberts Ausspruch zuverlässig überliefert von Dr. h. c. N² (das ist Hugo Cremer): Das Lied vom Mogeln, in Carmina Mathematica. Fachschaft der Mathematiker der Technischen Hochschule Aachen 1962. 55.
  8. O. Riedel: Genauigkeit der quantitativen radiometrischen Analysen nach Hevesy-Paneth und nach dem Verdünnungverfahren. Angew. Chem. 67, 1955. 643.
  9. M. Born: Vorhersagbarkeit in der klassischen Mechanik. Zs. f. Physik 163, 1955. 372.
  10. G. von Wright: Analytische Philosophie — eine historisch-kritische Betrachtung. Analyomen 1, Verlag Walter de Gruyter, Berlin 1994. 20.
  11. F. Nietzsche an vielen Stellen, z. B. in: Jenseits von Gut und Böse, § 9.
  12. zu F. H. Jacobi z. B. E. von Aster in M. Dessoir, Hg.: Die Geschichte der Philosophie. Verlag E. S. Mittler, Berlin 1925. 483.
  13. F. Nietzsche: Aus dem Nachlaß der Achtzigerjahre. Dritter Band der Werkausgabe von Karl Schlechta, Carl Hanser Verlag, München 1966. 500.
  14. A. Keller: Allgemeine Erkenntnistheorie. Verlag W. Kohlhammer, Stuttgart 1982. 90 f.
  15. wie (14). 122.
  16. wie (14). 121.
  17. I. Kant: Kritik der reinen Vernunft, 2. Aufl., 1787. B 82. .
  18. I. Kant: Prolegomena. 1783. § 35.
  19. P. Feyerabend: Wider den Methodenzwang, Skizze zu einer anarchistischen Erkenntnistheorie. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1983.
  20. O. Riedel: Zur Praxis der Wasserbestimmung nach Karl Fischer. GIT Fachzeitschrift f. d. Lab. 24, 1980. 705. .
  21. z.B. in (14). 104.
  22. A. Tarski: Der Wahrheitsbegriff in den formalistischen Sprachen. 1935. Abdruck in K. Berka und L. Kreiser, Hg.: Logik-Texte, 3. Aufl., Akademie-Verlag, Berlin 1983. 445.
  23. P. F. Strawson: Truth. Analysis 9, no. 6. — Deutsch in R. Bubner, Hg.: Sprache und Analysis. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1968. 96.

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