Es wird kolportiert, daß
Walter Ulbricht persönlich anläßlich eines Besuches in
Erfurt den ausstehenden Aufbau eines sozialistischen
Stadtzentrums anmahnte (vgl. REIMANN 1968, S. 31; WERNER
1985, S. 359). 1967 wurde ein Wettbewerb zur Umgestaltung
der Innenstadt ausgeschrieben, auf dessen Ergebnis 1968
eine neue Bebauungskonzeption ausgearbeitet wurde, die
u. a. den geschlossenen Abriß von 5.000 Wohnungen
im Andreasviertel vorsah. An ihrer Stelle sollte die
doppelte Zahl von Wohnungen in mehrgeschossigen
Wohnblocks errichtet werden. Ein großes Hotelhochhaus
auf dem Petersberg sollte als "neue Stadtkrone"
Dom und St. Severi überragen. Ziel war es, den
Komplex Petersberg/Domplatz zum städtebaulichen
Höhepunkt der "modernen sozialistischen
Bezirksstadt" zu machen und "den Sieg der
sozialistischen Ordnung über die Vergangenheit"
(REIMANN 1973, S. 162) zu symbolisieren. Das Hotel sollte
über eine breite Treppenanlage mit dem Domplatz
verbunden werden. Die Realisierung des Projektes
scheiterte einerseits am gewandelten städtebaulichen
Leitbild (vgl. Kap. 2.2.2), jedoch vor allem am
mangelnden Kapital. Lediglich die der Stadt zugewandte
Bastion Leonhard war bereits in den Jahren 1964-67 zur
Aussichtsplattform umgebaut worden. |
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Hinsichtlich der Verkehrsplanung hielt
die Konzeption am Leitbild der Magistrale fest. So sollte
ausgehend vom "Kaffeetrichter" südlich der
Bahngleise eine breite Straßenschneise durch die
Altstadt geschlagen "und zwischen Lange Brücke und
Hermannsplatz, die Regierungsstraße, Walkstrom,
Fischersand und Bergstrom überquerend, westlich um den
Domhügel herum zwischen Petersberg und Gerichts- und
Gefängnisgebäude parallel zur Andreasstraße bis zur
Einmündung in die Nordhäuser Straße geführt
werden" (REIMANN 1968, S. 32). Im Zuge des
Magistralenbaus sollte auch das dichtbebaute Areal
südlich und westlich des Doms beseitigt und durch
Wohnbebauung in Plattenbauweise sowie
"repräsentative Gebäude des kulturellen und
Verwaltungsbereichs, z. B. eine Konzerthalle und ein
Theater, sowie Bauten des Staatsapparates" (REIMANN
1973, S. 167) ersetzt werden. Auch diese Projekte sind
vom erst in den achtziger Jahren begonnen Bau des
"Hauses der Kultur" abgesehen nicht zur
Ausführung gelangt. "Man hat es vernünftigerweise
vorgezogen, den Groß- und Fernverkehr um den durch den
Umflutgraben markierten Innenstadtbereich außen
herumzuleiten, mußte dabei allerdings einige
Grünanlagen opfern" (STEINBRINK 1981, Teil 3, S.
95). |
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Erste Ansätze der innerstädtischen Umgestaltung
zeigten sich Ende der sechziger Jahre, als am östlichen
Juri-Gagarin-Ring zwischen 1967 und 1971 neben einem
zunächst der Unterbringung der Bauarbeiter dienenden
Hotel und einem Zeitungsgebäude vier 16-geschossige
Hochhäuser und drei 11-geschossige Wohnscheiben mit
insgesamt 1.140 Wohneinheiten in Plattenbauweise
errichtet wurden. Zuvor waren ca. 800 Wohnungen und ein
denkmalgeschützter Barockbau abgerissen, 15.000 m²
Gewerbeflächen verlegt sowie ein Friedhof beseitigt
worden. Die Zerstörung der mittelalterlichen
Stadtsilhouette des für seine zahlreichen Kirchtürme
bekannten erfordia turrita wurde dabei bewußt in
Kauf genommen: "Mit ihrer massiven Silhouette
umfassen diese Bauten ... die Altstadt wie eine Mauer.
Auf Grund ihrer Höhe wirken sie an vielen Punkten des
Stadtbildes in die alten Straßen und Plätze hinein und
überschneiden sich in der Fernsicht auf sehr ungünstige
Weise mit den historischen Dominanten" (TOPFSTEDT
1988, S. 116). Dem später im südlichen Bereich des
Juri-Gagarin-Rings mit mehreren "Wohnscheiben"
fortgesetzen Wohnungsbau folgte ab 1984 das Wohngebiet am
Huttenplatz im Bereich der nördlichen Altstadt. Trotz
dieser Baumaßnahmen reduzierte sich die Einwohnerzahl
des Stadtzentrums von ca. 15.000 (1970) auf etwa 8.000 im
Jahre 1981 (vgl. HUNGER 1990c, S. 64). |
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Innerstädtischer Plattenbau am östlichen
Juri-Gagarin-Ring |
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Den Anfang der zweiten Phase der innerstädtischen
Umgestaltung bildete ein 1986 fertiggestellter
"Funktionsmusterbau" der speziell für das
innerstädtische Bauen entwickelten WBS
70 / WBR 85 in der Leninstraße (heutige
Johannesstraße) am Johannisturm. Der 86 Wohnungen
umfassende, in fünfgeschossiger Plattenbauweise
errichtete Gebäudekomplex stellt den Versuch dar, die
"groben" Formen des industriellen Bauens in die
historische Bausubstanz der engen Innenstadt einzupassen.
Nach dem Vorbild des Funktionsmusterbaus entstanden am
benachbarten Huttenplatz etwa 570 Neubauwohnungen. Die
differenzierte Gestaltung der Dächer und Fassaden
(z. T. Mansardendächer, Loggien) sowie die
Anpassung der Grundrisse an natürliche (Geralauf) oder
historische Vorgaben lassen dieses Neubaugebiet
gegenüber den Großsiedlungen am Stadtrand als gelungen
erscheinen. Der Preis war jedoch ein großflächiger
Abriß der vorhandenen Bausubstanz. Vergleichsweise gut
angepaßte Bauformen fanden auch auf der Südseite des
südlichen Juri-Gagarin-Ringes als deutlicher Kontrast zu
den 11-geschossigen Wohnscheiben der gegenüberliegenden
Straßenseite Verwendung (vgl. WERNER 1989, S. 247). |
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Innerstädtischer Plattenbau am
Huttenplatz |
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In der letzten Städtebauprognose (vgl. HUNGER 1990c,
S. 122) wurde ausgewiesen, daß elf Prozent der
denkmalgeschützen Gebäude in der Stadt Erfurt vom
akuten Verfall bedroht waren. Für den Bereich der
Altstadt betrug die Rate gar 22,9 %. Wäre es 1989
nicht zur Wende gekommen, wären große Teile der
nördlichen Altstadt der Flächensanierung, d. h.
dem Abriß und dem Neubau von Wohngebäuden in
Plattenbauweise, zum Opfer gefallen. Mit einer
Menschenkette um das Gebiet drückten die Bewohner am 10.
Dezember 1989 ihren Unmut gegenüber diesen Plänen aus.
Trotz eines offiziell verfügten Abrißstopps wurden
insbesondere im Andreasviertel noch ca. 50
Häuser abgerissen (CONFURIUS 1990, S. 2481; FICHTNER
1990, S. 148). Als letztes innerstädtisches
Renomierobjekt war Mitte der achtziger Jahre mit dem
Neubau des "Hauses der Kultur" im
Volksmund spöttisch "Schiffshebewerk" genannt
mit zwei Sälen (1.750 Sitzplätze) und einem
Restaurant begonnen worden. Als Relikt der
Magistralenplanung erinnerte das im unvollendeten
Rohbaustadium eingestellte Projekt über die ersten Jahre
nach der Wiedervereinigung an die Maßstabslosigkeit der
sozialistischen Stadtplanung: "Ein
sogenanntes Kulturhaus drängt sich ungebeten
und brutal in die Altstadt, eine Betonruine, ähnlich dem
Theater in Potsdam und architektonisch wie städtebaulich
ähnlich stümperhaft entworfen. Als ein Menetekel
fortgesetzter Unfähigkeit verletzt und beleidigt es die
fragile historische Bebauung an einer empfindlichen
Stelle und beraubt die Stadt um eine ihrer schönsten
Platzanlagen" (CONFURIUS 1990, S. 2481).
Nach einer längeren in der Öffentlichkeit geführten
Debatte wurde 1996 der endgültige Abriß der Bauruine
beschlossen. |
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