Thomas Ott: Ein interaktives Modell zum Flächennutzungswandel im Transformationsprozeß am Beispiel der Stadt Erfurt

Innerstädtischer Plattenbau


Es wird kolportiert, daß Walter Ulbricht persönlich anläßlich eines Besuches in Erfurt den ausstehenden Aufbau eines sozialistischen Stadtzentrums anmahnte (vgl. REIMANN 1968, S. 31; WERNER 1985, S. 359). 1967 wurde ein Wettbewerb zur Umgestaltung der Innenstadt ausgeschrieben, auf dessen Ergebnis 1968 eine neue Bebauungskonzeption ausgearbeitet wurde, die u. a. den geschlossenen Abriß von 5.000 Wohnungen im Andreasviertel vorsah. An ihrer Stelle sollte die doppelte Zahl von Wohnungen in mehrgeschossigen Wohnblocks errichtet werden. Ein großes Hotelhochhaus auf dem Petersberg sollte als "neue Stadtkrone" Dom und St. Severi überragen. Ziel war es, den Komplex Petersberg/Domplatz zum städtebaulichen Höhepunkt der "modernen sozialistischen Bezirksstadt" zu machen und "den Sieg der sozialistischen Ordnung über die Vergangenheit" (REIMANN 1973, S. 162) zu symbolisieren. Das Hotel sollte über eine breite Treppenanlage mit dem Domplatz verbunden werden. Die Realisierung des Projektes scheiterte einerseits am gewandelten städtebaulichen Leitbild (vgl. Kap. 2.2.2), jedoch vor allem am mangelnden Kapital. Lediglich die der Stadt zugewandte Bastion Leonhard war bereits in den Jahren 1964-67 zur Aussichtsplattform umgebaut worden.    
     
Hinsichtlich der Verkehrsplanung hielt die Konzeption am Leitbild der Magistrale fest. So sollte ausgehend vom "Kaffeetrichter" südlich der Bahngleise eine breite Straßenschneise durch die Altstadt geschlagen "und zwischen Lange Brücke und Hermannsplatz, die Regierungsstraße, Walkstrom, Fischersand und Bergstrom überquerend, westlich um den Domhügel herum zwischen Petersberg und Gerichts- und Gefängnisgebäude parallel zur Andreasstraße bis zur Einmündung in die Nordhäuser Straße geführt werden" (REIMANN 1968, S. 32). Im Zuge des Magistralenbaus sollte auch das dichtbebaute Areal südlich und westlich des Doms beseitigt und durch Wohnbebauung in Plattenbauweise sowie "repräsentative Gebäude des kulturellen und Verwaltungsbereichs, z. B. eine Konzerthalle und ein Theater, sowie Bauten des Staatsapparates" (REIMANN 1973, S. 167) ersetzt werden. Auch diese Projekte sind – vom erst in den achtziger Jahren begonnen Bau des "Hauses der Kultur" abgesehen – nicht zur Ausführung gelangt. "Man hat es vernünftigerweise vorgezogen, den Groß- und Fernverkehr um den durch den Umflutgraben markierten Innenstadtbereich außen herumzuleiten, mußte dabei allerdings einige Grünanlagen opfern" (STEINBRINK 1981, Teil 3, S. 95).    
     
Erste Ansätze der innerstädtischen Umgestaltung zeigten sich Ende der sechziger Jahre, als am östlichen Juri-Gagarin-Ring zwischen 1967 und 1971 neben einem zunächst der Unterbringung der Bauarbeiter dienenden Hotel und einem Zeitungsgebäude vier 16-geschossige Hochhäuser und drei 11-geschossige Wohnscheiben mit insgesamt 1.140 Wohneinheiten in Plattenbauweise errichtet wurden. Zuvor waren ca. 800 Wohnungen und ein denkmalgeschützter Barockbau abgerissen, 15.000 m² Gewerbeflächen verlegt sowie ein Friedhof beseitigt worden. Die Zerstörung der mittelalterlichen Stadtsilhouette des für seine zahlreichen Kirchtürme bekannten erfordia turrita wurde dabei bewußt in Kauf genommen: "Mit ihrer massiven Silhouette umfassen diese Bauten ... die Altstadt wie eine Mauer. Auf Grund ihrer Höhe wirken sie an vielen Punkten des Stadtbildes in die alten Straßen und Plätze hinein und überschneiden sich in der Fernsicht auf sehr ungünstige Weise mit den historischen Dominanten" (TOPFSTEDT 1988, S. 116). Dem später im südlichen Bereich des Juri-Gagarin-Rings mit mehreren "Wohnscheiben" fortgesetzen Wohnungsbau folgte ab 1984 das Wohngebiet am Huttenplatz im Bereich der nördlichen Altstadt. Trotz dieser Baumaßnahmen reduzierte sich die Einwohnerzahl des Stadtzentrums von ca. 15.000 (1970) auf etwa 8.000 im Jahre 1981 (vgl. HUNGER 1990c, S. 64).  
Innerstädtischer Plattenbau am östlichen Juri-Gagarin-Ring
     
Den Anfang der zweiten Phase der innerstädtischen Umgestaltung bildete ein 1986 fertiggestellter "Funktionsmusterbau" der speziell für das innerstädtische Bauen entwickelten WBS 70 / WBR 85 in der Leninstraße (heutige Johannesstraße) am Johannisturm. Der 86 Wohnungen umfassende, in fünfgeschossiger Plattenbauweise errichtete Gebäudekomplex stellt den Versuch dar, die "groben" Formen des industriellen Bauens in die historische Bausubstanz der engen Innenstadt einzupassen. Nach dem Vorbild des Funktionsmusterbaus entstanden am benachbarten Huttenplatz etwa 570 Neubauwohnungen. Die differenzierte Gestaltung der Dächer und Fassaden (z. T. Mansardendächer, Loggien) sowie die Anpassung der Grundrisse an natürliche (Geralauf) oder historische Vorgaben lassen dieses Neubaugebiet gegenüber den Großsiedlungen am Stadtrand als gelungen erscheinen. Der Preis war jedoch ein großflächiger Abriß der vorhandenen Bausubstanz. Vergleichsweise gut angepaßte Bauformen fanden auch auf der Südseite des südlichen Juri-Gagarin-Ringes als deutlicher Kontrast zu den 11-geschossigen Wohnscheiben der gegenüberliegenden Straßenseite Verwendung (vgl. WERNER 1989, S. 247).  
Innerstädtischer Plattenbau am Huttenplatz
     
In der letzten Städtebauprognose (vgl. HUNGER 1990c, S. 122) wurde ausgewiesen, daß elf Prozent der denkmalgeschützen Gebäude in der Stadt Erfurt vom akuten Verfall bedroht waren. Für den Bereich der Altstadt betrug die Rate gar 22,9 %. Wäre es 1989 nicht zur Wende gekommen, wären große Teile der nördlichen Altstadt der Flächensanierung, d. h. dem Abriß und dem Neubau von Wohngebäuden in Plattenbauweise, zum Opfer gefallen. Mit einer Menschenkette um das Gebiet drückten die Bewohner am 10. Dezember 1989 ihren Unmut gegenüber diesen Plänen aus. Trotz eines offiziell verfügten Abrißstopps wurden – insbesondere im Andreasviertel – noch ca. 50 Häuser abgerissen (CONFURIUS 1990, S. 2481; FICHTNER 1990, S. 148). Als letztes innerstädtisches Renomierobjekt war Mitte der achtziger Jahre mit dem Neubau des "Hauses der Kultur" – im Volksmund spöttisch "Schiffshebewerk" genannt – mit zwei Sälen (1.750 Sitzplätze) und einem Restaurant begonnen worden. Als Relikt der Magistralenplanung erinnerte das im unvollendeten Rohbaustadium eingestellte Projekt über die ersten Jahre nach der Wiedervereinigung an die Maßstabslosigkeit der sozialistischen Stadtplanung: "Ein sogenanntes ‘Kulturhaus’ drängt sich ungebeten und brutal in die Altstadt, eine Betonruine, ähnlich dem Theater in Potsdam und architektonisch wie städtebaulich ähnlich stümperhaft entworfen. Als ein Menetekel fortgesetzter Unfähigkeit verletzt und beleidigt es die fragile historische Bebauung an einer empfindlichen Stelle und beraubt die Stadt um eine ihrer schönsten Platzanlagen" (CONFURIUS 1990, S. 2481).
Nach einer längeren in der Öffentlichkeit geführten Debatte wurde 1996 der endgültige Abriß der Bauruine beschlossen.
   
     

   
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