Flächennutzungswandel im Transformationsprozeß von der 'sozialistischen' zur 'kapitalistischen' Stadt am Beispiel Erfurts

von Thomas Ott


7.

7.1

Fazit

Zusammenfassung und Einordnung der Ergebnisse

In Abbildung 60 sind nochmals die beiden Modelle der physiognomisch-funktionalen Struktur der Stadt Erfurt unter sozialistischen bzw. postsozialistischen Vorzeichen wiedergegeben. Aus ihnen lassen sich die in der vorliegenden Arbeit dargestellten räumlichen Prozesse und Entwicklungstendenzen unter dem Einfluß der beiden Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme auf der Ebene des Stadt-Umland-Systems ablesen. Zugleich verdeutlichen sie die transformationsbedingte Umkehrung der wichtigsten Stadtentwicklungsprozesse, die sich im wesentlichen durch die Schlagworte Konzentration versus Dekonzentration zusammenfassen lassen.

Am Vorabend der Wiedervereinigung der beiden deutschen Staaten bot die Stadt Erfurt das typische Bild einer "real existierenden" sozialistischen Stadt in der DDR: Sie entsprach zwar nicht den utopischen Vorstellungen einer idealtypischen sozialistischen Stadt, aber in ihrer baulichen Substanz wie in ihrer funktionalen Struktur spiegelten sich die städtebaulichen Entwicklungen einer 40 Jahre andauernden Epoche zentralistisch-diktatorischer und planwirtschaftlicher Entscheidungsstrukturen. Obwohl die Stadt von größeren Schäden im Zweiten Weltkrieg verschont blieb, führte der Großplattenbau seit den sechziger Jahren zu empfindlichen Zerstörungen der Stadtstruktur in den Randbereichen der mittelalterlichen Stadt und den Übergängen zu den gründerzeitlichen Stadterweiterungen. Zwar blieb der Altstadtkern im wesentlichen unangetastet, jedoch haben die großflächigen sozialistischen Wohn- und Industriegebiete im Norden und Süden die Stadt überformt und nachhaltig geprägt. Abgesehen von der geplanten, aber nicht realisierten Höhendominante sind die physiognomisch-funktionalen Kennzeichen sozialistischen Städtebaus auch in Erfurt zu finden. Die nach dem Zweiten Weltkrieg neu entstandenen Wohnkomplexe und -siedlungen spiegeln die jeweils gültigen Grundsätze des sozialistischen Städtebaus der DDR wieder, wobei aufgrund des geringen Zerstörungsgrades der Wohnsubstanz und des Aufbaus der metallverarbeitenden und elektrotechnischen Industrie das zahlenmäßige Schwergewicht des Erfurter Wohnungsbaus auf den Bauformen der siebziger und achtziger Jahre liegt.

Die baulichen Strukturen fanden ihre soziale Entsprechung in der sozioökonomischen Struktur der Bevölkerung. In den Neubaugebieten der siebziger und achtziger Jahre war am Ende eine vergleichsweise ausgewogene Zusammensetzung der Einwohner gegeben, wobei allerdings durch die Vergabekriterien eine auffällige altersmäßige Schichtung bestand. In Abhängigkeit vom sanitären und baulichen Zustand der Wohnungen ergab sich in den Altbaubeständen demgegenüber eine stärkere Segregation einzelner Bevölkerungsgruppen, die im wesentlichen die Vorkriegszustände fortschrieb: die Villengebiete im Süden und Westen behielten ihren gehobenen Status und waren bevorzugte Wohnstandorte für Angehörige der Nomenklatur von Partei und Staat. Die traditionellen Arbeiterwohngebiete im Osten und Norden sanken durch die schlechte Ausstattung und den fortschreitenden baulichen Verfall immer weiter hinter die Neubaugebiete zurück, so daß am Ende eine deutliche Überalterung der Bevölkerung sowie eine Konzentration sozialer Problemfälle zu beobachten war.

Der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik hatte weitreichende Auswirkungen auf die innere Differenzierung der Stadt sowie auf die Stadt-Umland-Beziehungen. Mit der Übertragung des wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Regulationssystems aus der alten Bundesrepublik wurde in vielen Bereichen eine schlagartige Umkehr der bisherigen Entwicklung in Gang gesetzt. Während bis 1989 die Konzentration des Wohnungsbaus auf die damalige Bezirksstadt eine kontinuierliche Zunahme der Einwohnerzahlen verursachte, dokumentierte der Bevölkerungsrückgang im Landkreis Erfurt die Vernachlässigung ländlicher Siedlungen und das Fehlen jeglicher Suburbanisierung. Diese setzte erst nach 1990 ein und zeigt sich am Einwohnerzuwachs der Umlandgemeinden. In der Altstadt führte das kapitalistische Bodenwertgefüge zur Herausbildung einer City, die sich auch auf benachbarte Bereiche ausdehnte. Insbesondere die gründerzeitlichen Wohnquartiere sind einem überwiegend exogen gesteuerten Umnutzungsdruck unterworfen, der sich durch die Verdrängung der Wohnfunktion durch Handels- und Dienstleistungseinrichtungen, aber auch durch die Umwandlung von Miet- in Eigentumswohnungen äußert. Die mangelhafte infrastrukturelle Erschließung der Innenstadt und die ungeklärten Eigentumsfragen führten neben anderen rechtlichen und ökonomischen Faktoren (z. B. zeitlich befristete Sonderabschreibungen) zur Entstehung von ausgedehnten Gewerbegebieten und großen Einzelhandelseinrichtungen am Stadtrand bzw. in den mit neuen Rechten ausgestatteten Umlandgemeinden. Das Prinzip "Rückgabe vor Entschädigung" hemmte aufgrund unklarer Eigentumsverhältnisse die Investitionstätigkeit in vernachlässigte Wohngebäude, so daß mögliche Zuwanderer wegen der zügigen Baulandausweisung im Umland dorthin zogen. Alle kernstädtischen Wohnquartiere waren von starken Bevölkerungsverlusten betroffen. Die Abwanderungsströme richteten sich zunächst auf die alten Länder, ab 1992/93 vermehrt auf die neu entstandenen Wohngebiete im Umland. Der markante Bevölkerungsverlust nach 1988 konnte erst wieder mit den Eingemeindungen Mitte 1994 ausgeglichen werden.

Als persistentes bzw. an Traditionen anknüpfendes Element zeigt sich, basierend auf den natürlichen Standortfaktoren und den baulich-räumlichen Gegebenheiten, der soziale Status der Wohngebiete. So können insbesondere die Villengebiete im Süden der Stadt, die auch zu DDR-Zeiten bevorzugter Wohnstandort der Führungselite waren, an ihren Vorkriegsstatus als Oberschichtwohngebiete anknüpfen. Während die traditionell von Arbeiter- und Kleinbürgerhaushalten bewohnten gründerzeitlichen Wohnquartiere zumindest in Teilbereichen eine Aufwertung erfahren, fallen die einst begehrten sozialistischen Plattenbausiedlungen in ihrer relativen Position stetig zurück, da sowohl das Wohnumfeld als auch die sanitäre Ausstattung und der Zuschnitt der Wohnungen immer weniger den gestiegenen Ansprüchen genügen.

Der Flächennutzungswandel im Raum Erfurt findet seinen Niederschlag vor allem in Gewerbestandorten "auf der grünen Wiese" sowie suburbanen Ein- und Mehrfamilienhausgebieten mit häufig monotonen Hausformen und Gestaltungselementen. Gewerbliche, militärische oder agrarische Brachen spielen bei der Erschließung nur eine untergeordnete Rolle. Eine Ausnahme bilden lediglich ehemalige LPG-Gebäude, die vor allem in der unmittelbaren Nachwendezeit in Verkaufseinrichtungen oder Lager umfunktioniert wurden. Agrarische Brachen sind aufgrund der hohen Bodengüte im Thüringer Becken kaum zu verzeichnen, die Neubebauung ehemals militärisch oder industriell genutzter Flächen wird vor allem durch die Altlastenproblematik und die bisweilen ungeklärten Eingentumsfragen erschwert.

Vor allem jene Gemeinden weisen eine dynamische Entwicklung auf, die sich durch günstige Standortbedingungen (z. B. Nähe zur Autobahn, landschaftliche Attraktivität) auszeichnen. Dies gilt sowohl für Gewerbe- als auch für Wohnungbauprojekte. In denjenigen Gemeinden, in denen die Neubaugebiete bereits fertiggestellt sind, waren in den letzten Jahren enorme Bevölkerungszuwächse zu verzeichnen, die einerseits von Abwanderern aus der Kernstadt, aber auch von Zuwanderern aus anderen Regionen (alte Bundesländer) getragen werden. Demgegenüber stehen periphere Gemeinden, in denen nach wie vor Abwanderungstendenzen und ein negativer Saldo der natürlichen Bevölkerungsentwicklung zu verzeichnen sind.

Bedingt durch den verzögerten Aufbau der übergeordneten Planungs- und Genehmigungsinstanzen, wurden in den Jahren 1990/91 Standortentschiedungen getroffen, die sich nachteilig auf die Entwicklung des innerstädtischen Einzelhandels auswirken. Zwar war im Raum Erfurt nicht die aus anderen Regionen (bspw. Leipzig) bekannt gewordene exzessive Verkaufsflächenausweisung zu beobachten, jedoch sind auch hier mittlerweile Überkapazitäten entstanden, so daß aufgrund des nach wie vor bestehenden Kaufkraftgefälles zwischen alten und neuen Bundesländern mit Schließungen und Zusammenbrüchen zu rechnen ist.

Die Analyse der Fallstudiengebiete hat gezeigt, daß durch die quasi über Nacht erfolgte Übertragung der westlichen Regulationsmechanismen eine auf Kovergenz mit den westdeutschen Städten strebende Entwicklung in Gang gesetzt wurde. Die "nachholende Modernisierung" folgt jedoch nicht exakt allen Entwicklungsphasen der Städte in den alten Bundesländern. Vielmehr werden Etappen übersprungen und ausgelassen oder in anderer Reihenfolge bzw. parallel und häufig sehr viel schneller nachvollzogen. Diese Dynamik ist insbesondere im suburbanen Raum sowie in einigen, durch Cityerweiterungstendenzen gekennzeichnete, Altbaugebieten zu beobachten.

Viele Anzeichen sprechen dafür, daß sich in Erfurt der dynamische Entwicklungsprozeß der letzten Jahre fortsetzen und durch neue Impulse (Eröffnung der Universität, Umzug des Bundesarbeitsgerichts, Fertigstellung der ICE-Linien) noch beschleunigen wird. Die steigende Zahl der Zuwanderer – nicht zuletzt aus den alten Bundesländern –, die Anpassung der Lebens- und Wohnverhältnisse an die "westlichen" Bedingungen sowie der enorme Sanierungs- und Erneuerungsbedarf der vorhandenen Bausubstanz werden über die Jahrtausendwende hinaus für sektorale Engpässe auf dem Wohnungsmarkt sorgen. Durch die Eingemeindung der 18 neuen Stadtteile konnten erhebliche Wohnbaulandreserven hinzugewonnen werden, deren Erschließung dazu beiträgt, die abwandernden Bevölkerungsteile innerhalb der Stadtgrenzen zu halten. Es bleibt abzuwarten, ob die Suburbanisierung in den kommenden Jahren tatsächlich den aus dem Westen bekannten Umfang erreichen wird, oder ob es gelingt, durch eine zügige Modernisierung und Aufwertung der innerstädtischen Wohnquartiere (v.a. im Gründerzeitgürtel) attraktive Wohnstandorte sowohl für junge Familien als auch für die steigende Zahl der Ein- und Zwei-Personen-Haushalte zu schaffen. Für eine Ausweitung der Suburbanisierung spricht u. a. die große Zahl der zu modernisierenden Wohnungen, deren zügige Erneuerung durch eine Vielzahl von Faktoren wie ungeklärte Eingentumsverhältnisse oder mangelndes Kapital behindert wird. Dagegen sprechen beispielsweise die veränderte soziodemographische Zusammensetzung der Gesellschaft (Zunahme der Ein- und Zwei-Personen-Haushalte, steigende Zahl älterer Menschen), die gesunkene staatliche Förderung des Eigenheimbaus im Vergleich zu den siebziger Jahren im Westen, das geringere Einkommensniveau der ostdeutschen Haushalte sowie die in Planung und breite Bevölkerungsschichten vorgedrungene (ökologische) Erkenntnis der problematischen Verkehrsanbindung von Wohnstandorten im suburbanen Raum.

Die Zukunft der Großwohnsiedlungen ist schwer vorherzusagen. Es bleibt abzuwarten, ob es durch Eingriffe, die über wohnumfeldverbessernde Maßnahmen hinausgehen, gelingt, ein Absinken der Attraktivität und eine damit einhergehende soziale Erosion zu verhindern. Die derzeit zu beobachtenden Prozesse – Abwanderung einkommensstärkerer Haushalte und Zuwanderung von aus der Kernstadt verdrängten Bevölkerungsgruppen – sprechen für den Abstieg. Hinzu kommt, daß die zunehmende Zahl von neu gebauten oder modernisierten Wohnungen die zu DDR-Zeiten vergleichsweise hohe Ausstattungsqualität der Plattenbauwohnungen hinter die neuen Ausstattungsstandards zurücksinken läßt. Allein die enorme Zahl der Wohnungen in den Plattenbausiedlungen verbietet jedoch eine Übertragung der Beobachtungen aus westdeutschen oder westeuropäischen Großwohnsiedlungen. Aufgrund der spezifischen alterstrukturellen Zusammensetzung der Bewohner sind darüberhinaus infrastrukturelle Engpässe voprogrammiert.

Nach dem für viele Städte typischen Wachstum im Zeitalter der Industrialisierung und nach vier Jahrzehnten sozialistischer Prägung erhält Erfurt wiederum ein neues Gesicht. Die Spuren, die die Epoche des sozialistischen Städtebaus hinterlassen hat, werden jedoch noch viele Jahrzehnte sichtbar bleiben und eine völlige Angleichung an die physiognomische und funktionale Struktur westdeutscher Städte verhindern.


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