Thomas Ott: Ein interaktives Modell zum Flächennutzungswandel im Transformationsprozeß am Beispiel der Stadt Erfurt

Altstadt


Die Versorgungsfunktion der Stadtzentren war zu DDR-Zeiten viel weniger bedeutend als in der Bundesrepublik. Viele der für westdeutsche Städte typischen Innenstadtfunktionen waren in der DDR dezentral oder in Betrieben angesiedelt. Dies gilt sowohl für Einzelhandelseinrichtungen als auch für solche der sozialen und kulturellen Infrastruktur. Die Großsiedlungen am Stadtrand waren in der Regel mit großen Kaufhallen ausgestattet, die Preise der Waren waren nicht vom Standort abhängig. Lediglich das Angebot an Luxusartikeln in den "Delikat"- oder "Exquisit"-Läden sowie in den Intershops war i. d. R. in den Innenstädten angesiedelt. Insgesamt war die Nutzungsstruktur der Innenstädte wesentlich mehr durch die Wohnfunktion geprägt. Der Unterschied zwischen westlichen und östlichen Einkaufsstraßen lag jedoch nicht primär in der Funktionsmischung als vielmehr in der Trägerstruktur sowie der Differenzierung innerhalb der Funktionen: "da es keine Konkurrenz zwischen Handels- oder Dienstleistungseinrichtungen gab, und weil es kaum private Unternehmer gab, fehlte die kleinteilige Vielfalt und Mischung von Funktionen und Angeboten weitgehend, die die Stadtzentren in den westlichen Ländern traditionell kennzeichnen" (HÄUßERMANN 1996a, S. 15).    
     
Mit der Wiedervereinigung geriet der ostdeutsche Einzelhandel unter den Einfluß des westdeutschen Einzelhandelssystems, das selbst wiederum durch tiefgreifende Wandlungsprozesse (Konzentration, Filialisierung, Betriebstypenwandel, Entwicklung auf der "grünen Wiese") gekennzeichnet ist. Während der Strukturwandel im westdeutschen Einzelhandel jedoch seit mindestens zwei Jahrzehnten andauert, wurde die Anpassung in Ostdeutschland innerhalb weniger Jahre vollzogen. In den Stadtzentren führte die schlagartig gestiegene Kaufkraft zunächst zu einer Ausweitung ambulanter Handelsformen.    
     
Das Ausmaß der räumlichen Wirkungen des Transformationsprozesses wurde (vor allem) in den Innenstädten durch die persistente Wirkung der baulichen Strukturen gehemmt. Die physische Gestalt und die funktionale Gliederung wirkten über die Wende hinaus und beeinflussen den transformationsbedingten Strukturwandel im Einzelhandel. Bis heute lassen sich die Probleme des Einzelhandelsstandorts Innenstadt mit den Schlagworten hohe Mieten, Parkplatzmangel, ungeklärte Eigentumsverhältnisse und marode Infrastruktur umschreiben. Das triste Ambiente der Geschäftsstraßen war spätestens ab Mitte 1990 einem starken Umbruch unterworfen. Nach einer nahezu vollständigen Verdrängung der DDR-Produkte aus den Regalen der vorhandenen Geschäfte eröffneten zusätzliche Läden, entweder als Filialen westdeutscher Ladenketten oder auch als private Neugründungen. Insgesamt vollzog sich zumindest in den Hauptgeschäftsstraßen eine sehr schnelle Anpassung der Branchenstruktur wie auch der Physiognomie an westliche Verhältnisse    
     
Die aus dem Preisgefüge der alten Bundesländer abgeleiteten Bodenpreise und Ladenmieten in den ostdeutschen Innenstädten erlauben es nicht mehr, daß sich analog zur westdeutschen Nachkriegsentwicklung ein differenzierter Einzelhandel entwickelt. Diese Phase wird vielmehr übersprungen und die ostdeutsche Cityentwicklung setzt beim gegenwärtigen Zustand der westdeutschen Innenstädte ein. Da die am Stadtrand ungehindert emporgewachsenen Einkaufszentren und Supermärkte einen großen Teil der Kaufkraft an sich gebunden haben, ergibt sich eine innerstädtische Kaufkraftlücke. Angebote im Hochpreissegment und ein auf die obere Mittelschicht gerichtetes Warenangebot entsprechen derzeit (noch) nicht den sozioökonomischen Bedingungen Ostdeutschlands. Noch ehe die Revitalisierung der Innenstädte beginnen konnte, hatte die Suburbanisierung des Einzelhandels bereits Ausmaße erreicht, die über den westdeutschen Verhältnissen liegen.    
     
Vor allem in den Städten mit historischen Altstadtquartieren stellt der relativ kleine Grundstückszuschnitt sowie die Qualität der stadttechnischen Infrastruktur ein Hemmnis für die Durchführung geplanter Investitionen dar. Es ergibt sich eine Konfliktsituation zwischen Denkmalschutz und den gewünschten Investitionen. Andererseits verfügen gerade jene Innenstädte, die von Kriegszerstörungen verschont blieben und nur in relativ geringem Maße durch die sozialistische Städtebaupolitik überformt wurden, über ein bedeutendes Potential an historischer Bausubstanz: "Wenn eine Stadt über einen alten Stadtkern verfügt, wird aufgrund dessen Attraktivität eine Revitalisierung des Kerns, der City, eher eintreten, als wenn sie über einen solchen Kern nicht verfügt. Je geringer diese Qualität ist, desto eher werden sich neue Einkaufszentren im Umland ansiedeln" (FRIEDRICHS 1996, S. 362). Eine Expertenrunde "Städtebaulicher Denkmalschutz" des BMBau erarbeitete 1991 ein 105 Städte umfassendes Förderprogramm zur Sicherung, Erhaltung und Erneuerung der historischen Stadtkerne in den neuen Ländern. Der Revitalisierung der historischen Stadtkerne wird in diesem Rahmen eine außerordentliche Bedeutung für den Angleichungsprozeß der Lebensbedingungen und als wirkungsvolles Zeichen der neuen demokratischen Stadtentwicklungs-, Kultur- und Kommunalpolitik beigemessen (vgl. BEHR 1994, S. 223; GÜTTLER 1994, S. 145f.; HEIDE 1995; Bundesministerium für Wirtschaft 1996).    
     
Entwicklung von Einzelhandel und Gewerbe in der Erfurter Altstadt
     
Das Erfurter Stadtzentrum besteht im wesentlichen aus der durch eine heterogene bauliche und funktionale Struktur gekennzeichneten Altstadt mit einer Fläche von ca. 200 ha. Während sich einerseits Zeugnisse aller Stilepochen, von mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Bürgerhäusern bis hin zu monotonen Plattenbauten der siebziger Jahre und neuen Bürogebäuden gegenüberstehen, kontrastieren andererseits reine Wohnblöcke mit der eigentlichen City. Der vom Einzelhandel geprägte Hauptgeschäftsbereich zieht sich weitgehend entlang der Fußgängerzone im mittelalterlichen Kern, der zwischen dem Flußlauf der Gera und dem Domplatz aufgrund seiner kleinparzellierten und verwinkelten Gliederung in Plätze und Gassen über außerordentlich attraktive, lebenswerte urbane Räume verfügt. Zu erwähnen ist insbesondere die 1325 aus Stein errichtete Krämerbrücke, die einzige mit Häusern bebaute Brücke nördlich der Alpen. Im östlichen Teil der Altstadt, vor allem entlang des Angers, der Bahnhof- und Schlösserstraße, entstanden Ende des vorigen Jahrhunderts repräsentative Geschäftshäuser, die auf die damals aufkommenden bzw. expandierenden Nutzungen (z. B. Banken, Warenhäuser) ausgerichtet waren.  
Die Erfurter Altstadt


Die Krämerbrücke

     
Neben einigen kleineren denkmalpflegerischen Erneuerungsmaßnahmen, etwa aus Anlaß des Lutherjahres 1983 (vgl. KAISER 1983), stellte das Sanierungsgebiet Arche/Domplatz das bedeutendste Modernisierungsvorhaben in der Erfurter Altstadt dar. Mit einer Größe von etwa einem Hektar und rund 100 Wohneinheiten umfaßte es nur etwa ein Prozent der Fläche der Altstadt. Die über zehnjährige Dauer des 1977 begonnenen Projektes verdeutlicht jedoch zugleich die Probleme, mit denen die innerstädtischen Sanierungs- und Rekonstruktionsprojekte in der DDR behaftet waren. Parallel zur Entwicklung in anderen Großstädten der DDR wurde der Anger, die Hauptgeschäftsstraße der Stadt, zwischen 1976 und 1978 verkehrsberuhigt und ca. 120 Wohn- und Geschäftshäuser rekonstruiert (vgl. NITSCH 1983, S. 38; KIELGAß 1983; WERNER 1985, S. 362). Im gleichen Zeitraum entstand auf einer kriegsbedingten Baulücke nach Plänen des Stadtarchitekten Nitsch der Gebäudekomplex Angereck mit Reisebüro und Café.    
     
Zum Zeitpunkt der Wende entsprachen die Einkaufsstraßen der Erfurter Altstadt dem typischen Erscheinungsbild ostdeutscher Innenstädte (vgl. HUBAL 1993a). Die verschiedenen Formen des sozialistischen Einzelhandels dominierten das Bild, Nischen existierten nur im Bereich des "privaten Handwerks mit Einzelhandel (z. B. Bäcker)" (JÜRGENS 1994a, S. 303). Die Ladengeschäfte waren häufig in schlechtem baulichen Zustand. "Die Gesamterscheinung des Angers erschien Anfang 1990 im Vergleich zu den von Werbereizen überfluteten westlichen Innenstädten farblos; die wenigen Farbtupfer setzten sich zumeist aus schnell angebrachten, oft nur aufgeklebten Tabakwarenreklamen an den Rauchwarengeschäften und Kiosken zusammen" (IPSEN/FUCHS 1995, S. 243).    
     
Unmittelbar nach der Währungsunion setzte, wie in allen vergleichbaren ostdeutschen Städten, ein Wandel der innerstädtischen Flächennutzung ein. Die damit verbundenen Änderungen stellten neue Anforderungen z. B. an die technische Ausstattung sowie den Grundriß der Gebäude, so daß es schon wegen der verschiedenen Bausubstanz und Gebäudegröße innerhalb des Hauptgeschäftsbereiches zu einer räumlichen Nutzungsdifferenzierung kam. Zwar war auch zu DDR-Zeiten die Innenstadt Standort zentraler Funktionen und des Einzelhandels, aber das sozialistische Wirtschaftssystem mit seiner staatlichen Durchdringung, seinen vorwiegend politisch motivierten Vorgaben zur Gestaltung der Stadtzentren, seinem mangelnden Wettbewerb und geringen Bodenpreisgradienten rief erhebliche Unterschiede zu den Hauptgeschäftszentren westdeutscher Städte hervor. Schon die unbedeutende Zahl oder gar das Fehlen von Banken, Versicherungen oder freien Berufen begrenzten Nutzungsvielfalt und -intensität. Folgende Tendenzen sind typisch für die Entwicklung nach 1990:    
  • Intensivierung der Flächennutzung sowie Verdrängung der Wohnfunktion durch Einzelhandel und Dienstleistungen
   
Gebäudeweise Nutzungserhebungen im Hauptgeschäftsbereich von Erfurt in den Jahren 1988, 1992 und 1996 belegen außerordentliche strukturelle Verschiebungen zugunsten von Einrichtungen des Einzelhandels und des Dienstleistungssektors, deren Zahl sich mehr als verdoppelte (vgl. HUBAL 1993b, S. 97-105; Tab. 18). An dieser Expansion waren Unternehmen des Dienstleistungssektors wie Banken, Versicherungen, Wirtschaftsprüfer, Steuerberater, Consultingunternehmen sowie weitere Freie Berufe wie Rechtsanwälte, Immobilienmakler und Architekten überproportional beteiligt (1988: 18 oder 18,8 %, 1992: 110 oder 62,5 % der gezählten Dienstleistungen), während die vor der Wende dominierenden Betriebsverwaltungen (1988: 31 oder 32,3 %) 1992 eine sehr untergeordnete Bedeutung hatten (9 oder 4,3 %). Stark zurückgedrängt wurde auch die Zahl der Wohnungen mit einem Rückgang von ca. 23 %, der sich auch im doppelt so hohen Bevölkerungsverlust der Altstadt im Vergleich zu Erfurt insgesamt ausdrückt (vgl. Tab. 18 u. 21).   Tab. 18: Nutzungsdifferenzierung im Hauptgeschäftsbereich der Erfurter Innenstadt 1988, 1992 und 1996
Nutzung 1988 1992 1996
 

abs.

%

abs.

%

abs.

%

Einzelhandel 170 18,4 183 18,8 195 19,7
Dienstleistungen

96

10,4

171

17,6

219

22,2

Handwerk

36

3,9

24

2,5

20

2,0

Gastronomie

23

2,5

16

1,6

36

3,6

Behörde /
öffentl. Einricht.

56

6,1

61

6,3

46

4,7

Produzierendes Gewerbe

5

0,5

1

0,1

1

0,1

Wohnen

373

40,4

286

29,4

223

22,6

Leerstand

39

4,2

173

17,8

207

21,0

Sonstiges / k. A.

126

13,6

57

5,9

41

4,1

Insgesamt

924

100,0

972

100,0

988

100,0

Quelle: Hubal (1993b, S. 98, 102); eigene Erhebungen

Die mit dieser Umschichtung einhergehende Intensivierung der Flächennutzung belegen auch die Angaben aus einer schriftlichen Befragung der im Untersuchungsgebiet ansässigen Immobilienmakler zu deren räumlichen Schwerpunkten der Vermittlungs- und Investitionstätigkeit. Dabei zeigte sich, daß sowohl hinsichtlich Büro- und Gewerbeflächen als auch in Bezug auf Wohnimmobilien vor allem die Altstadt und die sich südlich anschließenden Villenviertel die vorderen Plätze einnehmen, also jene innerstädtischen Gebiete, die schon vor 1945 aufgrund der Erreichbarkeit, des Images sowie der Gebäudegestaltung und -struktur eine hohe Anziehungskraft besaßen.    
Die deutliche Zunahme der Leerstände zwischen 1988 und 1996 widerspricht nicht dieser Einschätzung. Sie ist vielmehr ein Indiz für die Neustrukturierungen und die sich nach 1992 fortsetzende Intensivierung. Denn während sich 1988 leerstehende Etagen oder gar Gebäude auf Seitenstraßen der Fußgängerzone beschränkten und somit das Problem der sanierungsbedürftigen Bausubstanz widerspiegelten, treten vier Jahre später nicht genutzte Stockwerke am Anger oder in der Schlösserstraße, also in jenen Bereichen auf, die auch zu DDR-Zeiten mit ihren zentrentypischen Leitungsfunktionen (Betriebsverwaltungen, Partei, Verbände) zu den bevorzugten Adressen zählten. Städtebauliche Gestaltung, Parzellierung, Flächengröße sind unabhängig vom wirtschaftlichen und politischen System mit seinen Regulationsmechanismen als Konstante für die Ansiedlung jeweils zentrentypischer Funktionen oberster Stufe anzusehen. Denn nach der Wende konzentrieren sich in diesem Bereich Filialbetriebe von Unternehmen aus den alten Ländern mit langlebigem und seltener nachgefragtem Warenangebot. Beispiele sind Juweliere, Optiker oder Bekleidungsgeschäfte, während in der Marktstraße, im kleinparzellierten und von Fachwerkhäusern geprägten Teil des Hauptgeschäftsbereiches, Erfurter Traditionsbetriebe z. B. Uhren sowie Schmuck und westdeutsche Filialen aus der Bekleidungsbranche vorwiegend Mode für junge Menschen aus dem unteren Preissegment anbieten. Allerdings hat die Dynamik der Nutzungsänderungen nach der Wende am Anger und in der Bahnhofsstraße heute einen gewissen Abschluß erreicht – so sind gegenwärtig zumindest in den Erdgeschossen keine Leerstände mehr zu beobachten –, sprang aber nach 1992 in die Marktstraße über. Hierfür spricht zum einen, daß bis heute auch am Domplatz ein großer Teil der Gebäude saniert und die Verbindung zu den nördlich gelegenen Wohngebieten, die Andreasstraße, fußgängerfreundlich umgestaltet wurde. Zum andern ist die heterogene Nutzungsstruktur zu nennen, die sowohl im Hinblick auf Preissegment als auch Fristigkeit der angebotenen Ware, teure Boutiquen neben alteingesessenen Bäckerein, vorliegt. Es bleibt abzuwarten, ob und in welchem Ausmaß ein Verdrängungsprozeß in Zukunft stattfinden.   Tab. 19: Trägerschaft des Einzelhandels im Hauptgeschäftsbereich der Erfurter Innenstadt 1988, 1992 und 1996
Träger

1988

1992

1996

 

abs.

%

abs.

%

abs.

%

HO

47

27,6

Konsumgenossenschaft

25

14,7

15

8,2

5

2,6

sonst. sozialist. Einzelhandel

41

24,1

Privatbetrieb

47

27,6

90

49,2

84

43,1

Filiale westdt. Unternehmen

45

24,6

70

35,9

Filiale ostdt. Unternehmen

22

12,0

24

12,3

Sonstiges / k. A.

10

5,9

11

6,0

12

6,1

Insgesamt

170

100,0

183

100,0

195

100,0

Quelle: Hubal (1993b, S. 99, 103); eigene Erhebungen

  • Auflösung sozialistischer Einzelhandelsstrukturen zugunsten privater Betriebe und Filialen westdeutscher Einzelhandelskonzerne
   
Von 1988 bis 1996 konnte der Einzelhandel seine quantitative Bedeutung in der Erfurter Fußgängerzone in etwa beibehalten (vgl. Tab. 18). Dies trifft auch für die einzelnen Bedarfsstufen zu (vgl. HUBAL 1993b, S. 100, 104). Die obigen Ausführungen zeigen bereits an, daß jedoch die Trägerschaft im Einzelhandel nach 1989 einem durchgreifenden Wandel unterlag. 1988 waren privat geführte Geschäfte sowie Betriebe der HO, die dem Ministerium für Handel und Versorgung unterstellt waren, mit jeweils 27,6 % am stärksten in der Erfurter Innenstadt vertreten. Diese zahlenmäßige Bedeutung des privaten Einzelhandels war vergleichsweise hoch, wenn man dessen Anteil von 11 % am mittleren Einzelhandelsumsatz in der DDR 1987 bedenkt (vgl. MEYER 1992, S. 246). Es folgte der sonstige sozialistische Einzelhandel, der anderen Ministerien, Wirtschaftsorganisationen, Produktionsbetrieben und -genossenschaften zugeordnet war, sowie die Konsumgenossenschaften. 1992 lagen Privatbetriebe, Geschäfte von Erfurter Einzelhändlern, mit fast 50 % eindeutig vor Filialen westdeutscher Ketten (24,6 %). Diese Rangfolge erklärt sich aus der bereits starken Position privater Unternehmen vor der Wende und aus der Übernahme von Läden der HO und Konsumgenossenschaften durch ehemalige Verkaufsstellenleiter (vgl. HUBAL 1993b). Bis 1996 nahm die Bedeutung westdeutscher Filialen absolut wie relativ zu, während sich Zahl und Anteil der "einheimischen" Betriebe leicht reduzierte. Die bereits angesprochene räumliche Differenzierung mit der Konzentration westdeutscher Filialen vor allem in den besseren Lagen (Anger/Bahnhof-/Schlösserstraße) und ostdeutscher Filialen im Bereich der Marktstraße, des Fischmarkts sowie der Nebenstraßen zeigt zugleich auch die unterschiedliche Finanzkraft der Unternehmen an. Bei den westdeutschen Filialen dominieren Mode, Parfümerien, Juweliere, Supermärkte und Warenhäuser, bei den ostdeutschen Betrieben handelt es sich meist um Bäcker, Metzger sowie Erfurt-spezifisch um Blumengeschäfte. Eine ganze Reihe von Geschäften und Einrichtungen, die bereits 1988 bestanden, existieren heute – meist in anderer Rechtsform – fort. Beispiele sind das Centrum-Warenhaus/Hertie, KARAT Schmuckgeschäft/Juwelier Jasper, HO Sportartikel/Sport Fink, KWV/ KOWO oder der Wandel von der Poliklinik zum Ärztehaus. Meist wurden die bis 1990 bestehenden Nutzungen jedoch durch neue Geschäfte (Filialen) mit abweichenden Angeboten ersetzt.    
  • Renovierung und Umgestaltung der bestehenden Bausubstanz, Neubau von Büro- und Geschäftshäusern
   
Die Thüringer Landeshauptstadt verfügt über einen der am besten erhaltenen mittelalterlichen Stadtkerne Deutschlands. Anfang 1991 waren etwa drei Viertel der städtebaulich wertvollen Gebäude in baulich schlechtem oder gar baufälligem Zustand (TLZ vom 22.2. u. 5.10.1991). Die Probleme der Erhaltung konzentrierten sich vor allem auf das sich an die Fußgängerzone anschließende Andreasviertel, das Ende der 80er Jahre nur aufgrund der Bürgerbewegung dem vollständigen Abriß entging (vgl. Kap. 6.5.3.1). Nach der Wende retteten Finanzhilfen des Landes mit Unterstützung aus Rheinland-Pfalz und Hessen viele der 177 vom Einsturz bedrohten Gebäude vor dem endgültigen Verfall. Im Hauptgeschäftsbereich entlang der Fußgängerzone bildeten sich Konfliktfelder für die privaten Investoren, die zwischen den ökonomisch interessanten zentral gelegenen Standorten und den Bedingungen der Denkmalpflege mit langfristigen und finanziell schlecht zu kalkulierenden Sanierungsplänen abzuwägen hatten. Es kann somit nicht überraschen, daß im Hauptgeschäftsbereich umfangreiche Investitionen in den Neubau, z. B. zwei Bekleidungs- und Bankhäuser sowie eine Einkaufsarkade mit Einzelhandels-, Büro- und Wohnflächen, auf unbebauten Flächen – i. d. R. Kriegszerstörungen – realisiert wurden. Die Neubauten blieben jedoch nicht auf Baulücken begrenzt, vielmehr erfolgten auch Abrisse nicht erhaltenswerter Gebäude. Auch die Renovierung der Geschäftshäuser, insbesondere am Anger, erfolgte meist im Auftrag westlicher Investoren. In einigen Fällen erwarben diese mehrere zusammenhängende Gebäudekomplexe, da auf diese Weise größere Verkaufsflächen geschaffen werden konnten.    
     
Vor allem ungeklärte Eigentumsfragen, der Mangel an geeigneten (großen) Ladenflächen, das hohe Tempo des Beitritts der DDR in das westdeutsche Wirtschaftssystem, der Neuaufbau der Verwaltungsstrukturen, die veraltete technische Infrastruktur (z. B. Wasser, Abwasser, Strom) sowie in Erfurt der Denkmalschutz führten dazu, daß am Rande der ostdeutschen Städte große Einkaufszentren errichtet wurden (vgl. Kap. 4.4). Obwohl im Raum Erfurt noch nicht alle seit 1990 genehmigten oder im Bau befindlichen Einzelhandelseinrichtungen fertig gestellt sind, gab es bereits fünf Jahre nach der Vereinigung Überkapazitäten an Verkaufsflächen, die sich auf die innerstädtischen Standorte spürbar negativ auswirken. Vergleichbare Probleme sind in allen ostdeutschen Großstädten festzustellen (vgl. bspw. MEYER 1992; JÜRGENS 1994a; SCHMIDT 1994). So erhöhte sich von 1989 bis 1991 in Jena die Verkaufsfläche in der Innenstadt um 35 %, am Stadtrand dagegen um 171 %. Die Folge davon war, daß die Innenstadt ihre führende Position bei der Verkaufsfläche einbüßte. Ihr Anteil verringerte sich von 52 % (1989) auf 35 % (1991), und der Rückgang fiel bei den flächenintensiven Möbel- und Baumärkten von 85 % auf 23 % noch stärker aus (MEYER 1992, S. 250f.). Darin drücken sich Verlagerungen aus, die in den alten Ländern schon in den 70er Jahren einsetzten. Im Falle von Erfurt konnte dank einer bereits 1990 erarbeiteten Handelsflächenkonzeption eine aus anderen Städten bekannte "Verödung der Innenstadt" verhindert werden, aber sogar Projekte mit sehr guten Lagefaktoren sind, zumindest gegenwärtig, nur noch eingeschränkt realisierbar, was eine zukunftsorientierte Stadtentwicklungspolitik erschwert (vgl. Fallbeispiel "Forum am Ring", Kap. 6.5.1.2).   Tab. 20: Kennziffern der Erfurter Innenstadt im Vergleich zu 84 deutschen Großstädten 1995
Kennziffer

Rang

Wert

Erläuterung
Kaufkraft

78

78,3

Kaufkraftindex der GfK
Einzelhandelsumsatz

71

92,8

Einzelhandelsumsatz je Einwohner
Kaufkraftpotential

53

77,6

Kaufkraftindex x Passantenzählung
Filialisierungsgrad

41

60,8

Anteil der Filial- unternehmen an den Einzelhandels-betrieben in Ia-Lagen (%)
Übernachtungen

32

400.017

 

Quelle: Kempers Frequenzanalyse (1995); FRIEDRICHS (1996, S. 370)

     
Im Dezember 1994 betrug die Einzelhandelsfläche in Erfurt etwa 142.000 Quadratmeter, was einem Durchschnitt von 0,7 m²/Einw. gegenüber 0,3 m²/Einw. 1989 entsprach. Das Flächenangebot lag trotz des enormen Zuwachses noch deutlich hinter dem der westdeutschen Großstädte (ca. 1,2 m²/Einw.) zurück. Sollten alle geplanten bzw. beantragten Einzelhandelsprojekte mit zusammen ca. 156.000 Quadratmetern Verkaufsfläche realisiert werden, würde sich der Durchschnittswert auf 2,0 m²/Einw. erhöhen (vgl. NEHREN 1995, S. 29). Die Kaufkraft der Erfurter und der Einpendler dürfte jedoch auf absehbare Zeit nicht für solche Dimensionen ausreichen, so daß mit erheblichen Leerständen in weniger attraktiven Bereichen oder an schlecht erreichbaren Standorten zu rechnen ist. Die Mietpreise für Einzelhandelsflächen liegen in den 1a-Lagen wie Anger, Schlösser-, Markt und Bahnhofsstraße zwischen 100 und 160 DM/m². In den 1b-Lagen, vor allem den Seitenstraßen der oben genannten Straßen, werden noch 50 bis 70 DM/m² gezahlt (vgl. NEHREN 1995, S. 29).   Tab. 21: Verteilung der Größenklassen der Geschäfte in der Erfurter Innenstadt 1995

Größenklassen [m²]

Anzahl

Anteil (%)

kummulierter Anteil (%)

unter 50

324

52,4

52,4

50 bis unter 100

159

25,7

78,2

100 bis unter 150

75

12,1

90,3

150 bis unter 200

19

3,1

93,4

200 und mehr

41

6,6

100,0

Gesamt

618

100,0

 

Quelle: OLENIK (1995, S. 21)

     
Wohnen in der Altstadt: Andreasviertel
   
Das 41 ha umfassende, zum Bereich der nördlichen Innenstadt zählende Andreasviertel spielte in den Umbauplänen der sozialistischen Stadtplaner eine zentrale Rolle (vgl. Kap. 5.1.3). So war in den ehrgeizigen Umbauplänen der sechziger und siebziger Jahren der nahezu völlige Abriß des Viertels vorgesehen. An die Stelle der historischen Bausubstanz sollten sozialistische Wohnkomplexe und eine vierspurige Magistrale treten. Das traditionelle Handwerkerviertel ist durch eine mittelalterliche Grundstruktur, d. h. enge, unregelmäßig verlaufende Gassen und heterogenen Baubestand mit Gebäuden verschiedenster Baualter, Baustile, Bausubstanz und Geschoßzahlen gekennzeichnet (vgl. Abb. 45). Neben historisch bedeutsamen Gebäuden (z. B. Augustinerkloster, Komturhof), die z. T. auf die Zeit vor dem großen Stadtbrand 1472 zurückgehen, finden sich einfache Wohnhäuser aus dem 19. und 20. Jahrhundert. Die Höfe sind häufig mit Schuppen und anderen Nebengebäuden bebaut, was einen sehr hohen Versiegelungsgrad mit sich bringt.    
     
Das Viertel fiel nach dem Zweiten Weltkrieg "einer anhaltenden Verwahrlosung und einem tiefgreifenden Wandel anheim. (...) Die baulich-räumliche Situation in einem Viertel wie diesem ließ sich schwerlich vereinbaren mit der Vorstellung vom sozialistischen Leben des neuen Menschen" (WEISKE 1996, S. 164). Hinter dem baulichen verbirgt sich jedoch auch ein ungeheures Potential an vorfordistischen Stadtstrukturen verschiedenster historischer Schichten. Dies bezieht sich nicht nur auf die materielle Struktur, sondern auch auf die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, die hier überdauern konnten. "Bürgerliche Wertorienierungen und Qualifikationsstrukturen fanden sich in den alten Stadtbestand zurückgedrängt. Aus funktionalen Gründen geduldete selbständige oder teilweise selbstständige [sic!] Kleinstunternehmen, Handwerks-, Handels- und Dienstleistungsbetriebe konnten hier überleben. (...) Insofern finden wir in diesen Bereichen der Städte materiell und sozial persistente Strukturen, die Ansatzpunkt neuer marktorientierter Entwicklungen sein können" (IPSEN et al. 1992, S. 9).    
     
Eine 1981/82 auf der Basis eines Ideenwettbewerbs durchgeführte städtebauliche Leitplanung ergab, daß in diesem Gebiet von den vorhandenen 2.250 Wohnungen etwa 800 abbruchreif und etwa 1.500 stark sanierungsbedürftig waren. Zugleich ermittelte man ein zusätzliches Wohnbaupotential von ca. 3.000 Wohneinheiten (vgl. RIETDORF 1989, S. 100f.). Generell wies das Gebiet unter allen Stadtteilen "die schlechteste Bausubstanz und eine unzureichende sanitärtechnische Ausstattung" auf (NITSCH 1980, S. 158; vgl. Tab. 26). Die Abrißpläne sorgten neben einem dramatischen Verfall der Bausubstanz auch für einen sozialen Abstieg der Bewohnerstruktur. Die ursprünglichen Bewohner bemühten sich, soweit es sich nicht um Hauseigentümer handelte, eine Wohnung in den Neubausiedlungen am Stadtrand zu erlangen. In freiwerdende Wohungen und Häuser wurden Haushalte aus den offiziell nicht vorhandenen sozialen Randgruppen eingewiesen.   Tab. 26: Kennziffern der nördlichen Altstadt im Vergleich zur Gesamtstadt 1980
Anteile in %

nördliche Innenstadt

Erfurt insgesamt

Bausubstanz bis 1918

75

52

sehr gute und gute Bausubstanz

39

88

Wohnungen ohne Bad und WC

77

37

Rentner

21

17

Erwerbstätige

49

51

Quelle: NITSCH (1980, S. 158)

     
Die kleinteiligen Strukturen des Viertels sowie die bautechnischen Vorgaben ließ es den DDR-Planern unmöglich erscheinen, das Stadtviertel behutsam zu erneuern. In den späten achtziger Jahren kamen die weitreichenden Abrißpläne erneut auf die Tagesordnung. Anders als in den sechziger und siebziger Jahren, als die Kritik an dem Projekt vornehmlich von westdeutschen Beobachtern vorgetragen wurde (vgl. bspw. REIMANN 1968), führten die Pläne zu Protesten und zur Gründung einer Bürgerinitiative vor Ort. Durch eine 1987 in der Michaeliskirche präsentierte Ausstellung gelang es, das Vorhaben in die öffentliche Diskussion zu ziehen und dadurch die für den Abriß vorgesehenen Flächen zu minimieren. Erst der politische Umsturz änderte die Lage, ohne sofort Klarheit zu schaffen. Die im Verein "Altstadt e.V." zusammengeschlossenen Bürger bildeten eine Vergabekommission, die die zum Abriß vorgesehenen Häuser an Interessenten vergeben sollte. Die Aktivitäten der Kommission wurden jedoch von den Rückübertragungsansprüchen der Alteigentümer überholt, so daß der Verein sein Scheitern eingestehen mußte (vgl. WEISKE 1994a, S. 15; WEISKE 1996, S. 166).    
     
Im Andreasviertel wurden, wie in anderen Teilbereichen der Altstadt, Häuser mit Hilfe der "Thüringer Initiative zur Gebäudesicherung" vor dem weiteren Verfall gerettet. Die über 200 Gebäude wurden durch das Thüringer Innenministerium und mittels Spenden (u. a. der Partnerstadt Mainz) vor allem im Dach- und Tragwerksbereich soweit gesichert, daß kein Rechtsanspruch auf Abriß mehr besteht und die Klärung der Eigentumsfrage abgewartet werden kann. Im April 1991 beschloß der Magistrat der Stadt die Ausweisung eines 15 ha umfassenden förmlichen Sanierungsgebietes. Ziel des Sanierungsvorhabens ist eine städtebauliche Entwicklung des Gebietes, die den Charakter des Viertels erhält, Neubebauungen behutsam einpaßt, die soziale Durchmischung gewährleistet, die ökologische Qualität verbessert und die Verkehrsprobleme reduziert (vgl. u. a. WEISKE 1994a, S. 16f.). Um die Spekulation zu unterbinden, genießt die Stadt ein Vorkaufsrecht bei allen Grundstückstransaktionen. Vor allem in den Bereichen nördlich der Marbacher Gasse bestehen umfangreiche Brachen und Abrißflächen, die größtenteils neu bebaut werden sollen. Für größere Bauvorhaben des sozialen Wohnungsbaus wurden Grundstücke zusammengelegt, die Grundrisse und die Fassadengestaltung der Gebäude sollen jedoch den traditionellen Einzelhauscharakter simulieren.    
     
Gegenwärtig ist die Bausubstanz des Andreasviertels durch eine Renovierungs- und Neubauwelle gekennzeichnet (vgl. Abb. 45). Zwar stehen nach wie vor zahlreiche Gebäude aufgrund ungeklärter Eigentumsfragen leer, doch wurden in den letzten Jahren eine Vielzahl von Renovierungs- und Baumaßnahmen begonnen. Häufig werden die Erneuerungsmaßnahmen als Eigenleistung der Hausbesitzer ausgeführt, was sich in einer schrittweisen Durchführung der notwendigsten Maßnahmen (Dach, Fenster) und längeren Realisierungszeiträumen äußert. Seitens der Kommune wurde in den letzten Jahren die gesamte stadttechnische Infrastruktur erneuert. Die neu gewonnene Attraktivität des Viertels, auch für wohlhabendere Haushalte, schlug sich 1995 in einem gegenüber den Vorjahren stark verlangsamten Bevölkerungsrückgang nieder..   Abb. 45: Gebäudezustand im Andreasviertel 1995
Quelle: Eigene Erhebungen

 


   
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